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Strukturelle Bedeutung von Therapieabschlüssen

(Fachzeitschrift Entwicklungstherapie, Heft 4 / 2012)

Beschreibungen über das Ende einer Psychotherapie finden wir eher selten in der psychologischen Literatur, Beschreibungen über die Höhepunkte und die spektakulären Wendungen einer Therapie dagegen häufiger. Es kann so der Eindruck entstehen, dass der Abschluss einer Psychotherapie, was seine besondere Gestalt und Ausformung betrifft, nur von einer formalen Bedeutung für das gemeinsame Werk und im engeren auch für den Therapeuten ist.

Eine Gegenposition hierzu lautet, dass das Ende einer Psychotherapie gerade von einer besonderen Bedeutung ist und strukturell gesehen eher „mitten“ ins Geschehen hineingehört. Diese Position bildet den Ansatzpunkt für meine Überlegungen, die ich in diesem Beitrag ausführen möchte.

Sieht man sich das psychotherapeutische Geschehen unter einer allgemeinen strukturellen Perspektive an, lässt sich bereits ein erstes Verständnis zur Frage der besonderen Bedeutung von Abschlüssen entwickeln. Daher beziehe ich mich zunächst auf eine Veröffentlichung zum Thema Struktur und Funktionieren von Psychotherapie (Mikus, 2004). Danach gehe ich auf die Perspektive einer bildanalytischen Methode ein, weil diese noch einen besonderen Blick auf das Problem der Therapieabschlüsse möglich macht.

Strukturmodell als Grundlage

Wie sieht das Geschehen einer Psychotherapie aus, wenn wir es unter einer strukturellen Perspektive betrachten und was erfahren wir dabei zu unserem Thema?
In einer Psychotherapie geht es darum, vorhandene Veränderungsspielräume in der Lebenswirklichkeit eines Klienten erfahrbar und verfügbar zu machen. Veränderungen im Leben stellen wir immer wieder her und zwar dadurch, dass wir in Abwandlungen und nicht immer in gleicher Weise auf die Herausforderungen unserer Wirklichkeit eingehen. Jeder Mensch hat dabei bestimmte Spielräume, in denen sich diese Änderungen bewegen. Manchmal sind diese auch auf eine merkwürdige Weise eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt, so als wären sie eigentlich nicht mehr im Spiel.

Eine Psychotherapie gibt dem Klienten die Gelegenheit, seine gelebten Methoden und die tragenden Muster seines Erlebens und Verhaltens auf die Bühne eines mit dem Therapeuten geteilten „psychotherapeutischen Geschehens“ zu bringen. Auf dieser Bühne findet eine beziehungsstrukturelle Arbeit statt, die den Klienten und den Therapeuten wie in einer Zwischenwelt miteinander verbindet. Diese Welt hat eigene Regeln. Hier sind Prozesse möglich, die in der „normalen Welt“ nicht funktionieren. In diesem geschützten Rahmen findet eine Übertragung der Muster aus dem Leben des Klienten statt. Diese entfalten hier aber nicht den gleichen Druck, der in der normalen Realität von ihnen ausgeht. Der Therapeut als Mitspielender erfüllt mit seiner besonderen Art des Eingehens nicht genau die Erwartungen, die das Muster an sein Gegenüber zu stellen scheint. Er geht vielmehr auf die meist ungesehenen Abwandlungsmöglichkeiten ein, die als Fortsetzung in dem zwingenden Muster ebenfalls mit enthalten sind. Auf diese Weise spielt der Therapeut, wenn auch indirekt, den zunächst für sich selbst gefundenen Spielraum an den Klienten zurück. Dadurch lockert sich für letzteren die Enge des eigenen Vorgehens und „Systems“. Es können Überlegungen und Experimente freigesetzt werden, die in Richtung Neubewertung gehen und veränderte Verarbeitungs- und Eingehensformen einleiten. Veränderungsspielräume werden erfahren, die bis dahin nicht wahrgenommen werden konnten. In einer Therapie wird eine solche, zunächst einmalige Erfahrung, im Weiteren durch ein bestimmtes Maß an Wiederholung vertieft. Eine ergänzende Form der Absicherung erfolgt aber vor allen Dingen durch die Verdichtung des Neuerfahrenen in einem schlüsselhaften Erlebnis oder Gleichnis (z.B. über ein Märchenbild verbunden mit dem einen oder anderen bedeutungsmächtigen Erinnerungsbild). Das hilft dem Klienten, mehr und mehr die komplizierten Zusammenhänge, in denen er verstrickt ist, zu überschauen. Es ermöglicht ihm, die selben Zusammenhänge auch außerhalb der Therapie zu sehen und für sich nutzbar zu machen.

Es findet aber noch eine weitere Form der Absicherung des Neuerfahrenen statt. Diese besteht in einer expliziten Nutzung des Zu-Ende-Bringens einer Therapie: Therapeut und Klient müssen die fallspezifische Form des jeweiligen Therapie-Endes noch einmal auf die Problematik des Falles selbst und auf die neu erfahrenen Veränderungsspielräume hin übersetzen. Dies verhindert zunächst einmal, dass mit dem Ende eine Erfahrung gemacht wird, die dem Neuerlernten in der Therapie eventuell entgegensteht. Und eine solche Schlusserfahrung kann überaus negative Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit des neu Erworbenen haben. In der Trennungsphase der Therapie wird, ob gewollt oder nicht, das gelebte Muster des Falles mit seinen neu entdeckten Möglichkeiten noch einmal auf eine besonders nachwirkende Weise auf die Bühne gebracht.

Bildanalytische Akzentsetzung

Auf diese Notwendigkeit, das Ende einer Therapie und seine jeweils besondere Form ernst zu nehmen, möchte ich im Folgenden etwas genauer eingehen. Hierzu nehme ich Bezug auf den Grundgedanken der bildanalytische Psychotherapie, man könnte auch sagen einer Entwicklungstherapie im engeren Sinne. Eine bildanalytische Therapie folgt in ihrem Funktionieren natürlich den allgemein in einer Psychotherapie wirkenden strukturellen Zügen. Die konkrete Umsetzung derselben folgt dabei allerdings einem eigenen Prinzip, welches man das Prinzip des „Um- oder Nachschaffens“ nennen könnte. Die bildanalytische Psychotherapie geht davon aus, dass jeder Sinn und jede Deutung immer erst aus der letzten Position eines tatsächlich geschaffenen Ganzen hervorgeht. Erst das Ganze eines gelebten Zusammenhangs gibt dem Vorangegangenen seinen Sinn; es deutet von seiner aktuellen Realität aus in die Richtung des Gewesenen zurück und gibt ihm von der Beschaffenheit seines Hier und Jetzt her Sinn. Am Ende können wir mit dem Blick des Gewordenen sagen: „Ja, so habe ich es gewollt“ (Fr. Nietzsche, 1883).

Vielleicht sollten wir uns das Prinzip an dem Beispiel eines Lebensverlaufes deutlich machen. Denken wir uns einen Menschen, der sich auf sehr vielen Gebieten betätigt. Er versucht, nirgendwo etwas zu verpassen und, salopp gesagt, ist er bekannt als „Hans Dampf in allen Gassen“. Nehmen wir weiterhin an, dass er ein besonderes Talent besitzt, welches zu entfalten ihm aber ein recht großes Maß an Muße und Beständigkeit abverlangen würde. Die Entfaltung dieser vielleicht schriftstellerischen Fähigkeit bleibt aber hinter den anderen Dingen zurück. Wenn dieser Mensch jetzt z.B. durch einen schweren, irreparablen Rückenschaden dazu gezwungen wird, fortan alle Arbeit im Sitzen zu verrichten, würde das einen großen Einschnitt in die bisherige Form seiner Lebensführung bedeuten. Nehmen wir weiter an, dass seine rege Tätigkeit mit häufigem Ortswechsel und mit einer Vielzahl an gesellschaftlichen Begegnungen auf den verschiedensten Bühnen verbunden war. Es gibt nun zwei verschiedene Weiterentwicklungsmöglichkeiten: Die eine besteht in dem Versuch, die besondere Natur des „Hans Dampf in allen Gassen“ beizubehalten. In diesem Falle könnte er versuchen, z.B. das Internet als kompensierendes Medium einzusetzen. Er würde seine Geschäfte derart umgestalten, dass sie sich mit Hilfe des neuen Mediums gleichsam im Sitzen organisieren lassen. So könnte es ihm vielleicht gelingen, auf den verschiedensten Feldern seines Wirkens auch weiterhin mit dabei zu sein. Eine andere Wendung der Entwicklung könnte so aussehen, dass der Betroffene in diesem Falle die ungewollte Bewegungseinschränkung im Sinne einer Weiterentwicklung seines bisher nur wenig geförderten schriftstellerischen Talentes nutzt. Er nimmt sie dann als eine Erleichterung dazu an, das nötige Sitzfleisch zu entwickeln. Nun kann es geschehen, dass er mit dieser Entwicklung erfolgreich ist und eine Größe innerhalb der Literatur wird. Das Ereignis des Rückenschadens wird in diesem Falle eine andere Bedeutung erhalten als im Falle einer Fortsetzung des gelebten Prinzips (Beibehaltung der Geschäftigkeit durch eine Übersetzung auf ein anderes Medium z.B. Internet). Das jeweilige Ende der Entwicklung gibt dem Ereignis je einen anderen Sinn und lässt den Betroffenen mit einem gewissen Stolz am Ende hoffentlich sagen, „ja, so habe ich es gewollt.“

Das Umschaffen als Prinzip

Ob wir dieses Prinzip des Nach- oder Umschaffens im Seelischen anerkennen wollen oder nicht, es hat seine Folgen. So werden wir eine Übergangssituation in ihren Chancen anders und höher einschätzen, wenn wir davon ausgehen, dass der Sinn eines aktuellen Ereignisses nicht schon vorher existiert, sondern sich in den nachfolgenden Taten und Werken erst noch finden oder gar erst noch erfinden muss. Menschen, die sich systematisch in einer psychichen Einschränkung eingerichtet haben, scheinen die Fähigkeit zu einer solchen Wertschätzung derartiger Übergänge allerdings nicht oder nicht mehr zu besitzen. Die bildanalytische Psychotherapie geht davon aus, dass die genannte Fähigkeit, dort wo sie fehlt, methodisch entwickelt bzw. nachentwickelt werden kann.
Die Psychotherapie bildanalytischen Zuschnitts hat ihren besonderen Stil darin, alles das zu unterstützen, was die Entwicklung einer solchen Haltung fördert oder weiterbringt. Die Therapie von Sitzung zu Sitzung ist selbst ein Gleichnis dafür, dass in einem Verlauf etwas entsteht, was seinen Sinn erst von Mal zu Mal erfährt, indem der Fortgang der Therapie aus dem Gewordenen der letzten Stunde etwas macht. An diesem Gleichnis lernt der Klient. Das Prinzip, um das es dabei geht, stellt heraus, dass sich Sinn oder Bedeutung erst im Überschreiten herstellt: Ein einzelnes Geschehen schafft die Bedeutung aller Einzelheiten um. Es löst die Sinn stiftende Bedeutung des bisher gegebenen Zusammenhangs auf und schafft von seiner eigenen Position aus einen neuen Zusammenhang bis in die Einzelheiten hinein.

Die Bedeutungswandlung hat eine Logik, die in ihrer Form an eine Zeitumkehrung erinnert: Nicht das Erste bringt das Zweite hervor, sondern: Das Erste wird durch das Zweite erst erschaffen. Letzteres ist unter Bedeutungseinheiten tatsächlich so, auch wenn das etwas merkwürdig klingen mag: Das zeitlich Zweite gibt dem Vorangegangenen erst seinen Sinn und bringt es in seiner jeweiligen Bedeutung erst hervor. Die Dinge sind immer das, was sie vom Ende her sind. Zur Wirklichkeit der psychischen Zusammenhänge, die in Bedeutungen besteht, passt eine deterministische Interpretation nicht: Psychische Zusammenhänge überschreiten sich vielmehr unentwegt selbst und legen sich dabei von Fall zu Fall mmer wieder neu aus. Das ganze geschieht wie von einem sich immer wieder verändernden Ende her. In einem solchen Umfeld macht es wenig Sinn, von einer deterministischen Wirklichkeit auszugehen.

Bindungsmacht der Zwischenwelt

Kehren wir noch mal zum Verständnis eines allgemeinen Funktionierens von Psychotherapie zurück: Das Gelingen seelischer Veränderungen liegt vor allen Dingen darin begründet, dass die neuen Erfahrungen in einem beziehungsstrukturellen Medium stattfinden: Teilfunktionen eines komplexen neuen Handlungsgeschehens, an dem der Klient bzw. Patient arbeitet, werden übergangsweise vom Therapeuten übernommen. Auch das, was dem Klienten zwischen den Sitzungen umzusetzen gelingt, bleibt durch den Kontext der noch laufenden Therapie bestimmt. Die Zwischenwelt der Therapie ist wie unsichtbar immer mit im Spiel. Auf alles, was sich einstellt, fällt der Blick derselben, egal ob die entsprechenden Dinge in den Sitzungen explizit behandelt werden oder nicht. Der Therapeut und die sich entwickelnde gemeinsame Arbeit tragen das aktuelle Geschehen auch außerhalb der Therapie auf eine vielfältige Weise mit.
Die für sich alleine noch nicht „lauffertigen“ Neuansätze des Klienten, die auf eine Erweiterung der Veränderungsspielräume hinauswollen, erhalten in einem solchen geschützten Rahmen eine Chance, sich in die Realität zu wagen, obwohl sie doch noch nicht reif und fertig sind. Das Ganze gleicht dem Erfahrungen-machen in der sehr frühen Zweierbeziehung zwischen Kleinkind und Hauptbezugsperson. Allerdings wächst in der Gemeinsamkeit der therapeutischen Arbeit das noch ungeformte Einfache zu einer Gestalt heran, die sich dann an das Alleine-Machen heranwagen muss. Das wirkt wie eine Kehrseite, die im beziehungsstrukturellen Lernen liegt. Es kann zu einer Verselbstständigung der gestützten Formen kommen, die der Klient nach der Therapie dann in verwandten Arbeitsteilungen nachzubilden versucht. Dann ist er gleichsam von der Therapie abhängig geworden und überträgt das Neuerfahrene aus der Zwischenwelt so, als ob diese weiterhin bestehen bleiben könnte. Er bildet ein Weiterleben der „Übergangskonstruktion Therapie“ nach. Erforderlich ist also nicht die formal korrekte Beendigung einer Therapie sondern ein Ende, das eine echte psychische Ablösung des Klienten vom Therapeuten und umgekehrt darstellt.

Der Therapeut muss sich in dieser Situation einer Wirklichkeit stellen, die ihn jeglicher Korrekturmöglichkeiten beraubt. Sein Teil ist geleistet. Er muss in eine Wirklichkeit einwilligen, die ihn ab jetzt nicht mehr fragt, wie er es denn gerne noch zusammen mit dem Klienten umgeschaffen hätte. Ab jetzt unterstellen sich beide einem Dritten, einer Realität, die sie nicht mehr wie in der Zwischenwelt bisher in der Hand haben. Das verbindet beide für einen kurzen Augenblick auf eine ganz neue Art und Weise und stiftet ein Gefühl des Neubeginnens in der Trennung. Der Vorgang kann die Bedeutung einer Initiation einnehmen.

Der Schutz einer Zwischenwelt, den der Therapeut auf seine Weise auch selbst genossen hat, muss am Ende von beiden Seiten aufgegeben werden können. Auch der Therapeut muss diese Ablösung leisten. Die gemeinsame Welt der Therapie hat ihm abkürzende Wunscherfüllungen zukommen lassen, und umgekehrt auch einiges vorenthalten, was nur in einer „normalen“ Beziehung, bei einem „gleich zu gleich“ erfahrbar wäre. Er muss sich daraus befreien und tut damit etwas für sich und seine Psychohygiene. Das kann der Klient erspüren und wie eine Entlastung auch für sich erfahren.

Das Neue kommt wie im Sprung

Der Therapeut verrichtet eine Arbeit, die keineswegs als invasiv oder eingriffig typisiert werden kann. Bezogen auf den Prozess im Ganzen, und unter einer bestimmten Perspektive, trifft diese Kennzeichnung aber dennoch zu. Und das hat folgenden Grund. Der Therapeut ist mit dem Klienten durch die gemeinsame Arbeit auf der „therapeutischen Bühne“ über weite Strecken in einer notwendig unscharfen Arbeitsteilung verbunden. Es lässt sich nicht immer genau ausmachen, welche Funktion der Therapeut in einem auf die Bühne gebrachten Geschehensmuster gerade eingenommen hat. Anders ist es mit der Steuerung des Prozesses im Ganzen, wenn wir also Abstand nehmen und auf das Rahmende des Ganzen schauen. Der Therapeut muss nämlich immer wieder eine Metaposition einnehmen und das bisher Geschehene für den Klienten und für sich übersetzen in ein nachschaffendes „Ja, so habe ich es gewollt“. Der Therapeut ist also derjenige, der dafür sorgt, dass das Vergangene immer wieder auf das Neu- Erfahrene hin einen Sinn erhält. In Bezug auf diese Tätigkeit steht der Therapeut tatsächlich eher einsam und alleine da. Er ist, bezogen auf die Rahmung des Ganzen gleichsam der Dirigent und stellt das Therapeutische sicher. Am Ende einer Therapie muss der Klient den Therapeuten in seiner Nachschaffenskunst gewissermaßen ersetzen können. Schafft der Klient es nicht, das mit Unterstützung Erreichte zu verinnerlichen und zu etwas sich Selbsttragenden zu vervollständigen, kommt er nicht los von der Therapie, auch wenn diese äußerlich korrekt abgeschlossen wurde. Er wird dann vielleicht versuchen, das Spiel mit dem Therapeuten auch außerhalb der Therapie zu wiederholen. Er könnte versuchen, bestimmte Anteile seiner Methode, die der Therapeut in der gemeinsamen Arbeit über weite Strecken mitgetragen hat, nun auf andere Hilfspersonen zu übertragen.

Die angesprochene Haltung, die in der Ablösungsphase erforderlich ist, entsteht allerdings nicht nach und nach. Die neue Haltung kommt vielmehr in einem Gestaltsprung zustande, auch wenn hierzu eine lange Entwicklung vorangehen muss. Dieser Gestaltsprung muss aber noch innerhalb der Therapie stattfinden. Darauf ist eine strukturell funktionierende Psychotherapie angelegt. Die beste Gelegenheit hierzu ist die Gestaltung des Therapie- Endes. Der Klient bringt ein passendes Ende in die Therapie hinein, was vom Therapeuten als solches nur noch anerkannt werden muss. Er muss ohne die suggestive Unterstützung des Therapeuten spüren können, dass seine Art, die Therapie zu beenden, der gewonnenen Erkenntnis aus der eigenen Therapie auch genau entspricht. Und das heißt dann auch, dass sein Schlussstrich in der Therapie dem gemeinsam Entwickelten Recht gibt und zu der bisherigen Entwicklung sagt: „Genau so habe ich es gewollt“. Das kommt einer Entlastung des Therapeuten gleich, die der Klient ihm gegenüber „ausspricht“. Das Geschehene spricht für sich. Und die Entwicklung, auf die es die Therapie angelegt hat, kann so mit einem guten Gefühl in die Offenheiten der normalen Welt hinein entlassen werden.

Gemeinsames Verlassen einer Institution

Zusammenfassend kann man sagen: Die Psychotherapie macht es möglich, Veränderungsspielräume in der Lebensgestaltung eines Menschen zu realisieren, weil sie eine besondere, beziehungsstrukturelle Form der Arbeit zwischen dem Klienten und dem Therapeuten möglich macht. Diese besondere Form hat aber wie jedes seelische Geschehen auch eine Kehrseite, die unabwendbar mit hinzugehört: Die genutzte Zwischenwelt mit ihrer beziehungsstrukturellen Arbeit kann zu einer Falle werden! Denn, was in einer Psychotherapie zunächst gelingt, ist nicht im gleichen Augenblick auch schon im Sinne der Selbständigkeit eines Klienten gesichert. Hierzu gehört vielmehr noch die Übersetzung der neuen Erfahrung in die sinnliche Dichte eines „Bildes“ (Märchen, Schlüsselerlebnis) und darauf aufbauend – ganz wichtig – die Spiegelung des Neuerfahrenen auf die höchst individuelle, und vom Fall her bestimmte Form des Therapie-Endes.

Eine gelungene Psychotherapie endet mit der von beiden Seiten gewürdigten Übertragung des vom Klienten in die Therapie eingebrachten und gemeinsam vertieften Handlungsmusters auf das ganz konkrete Trennungsgeschehen in der Therapie. Ein so gerahmter Therapieabschluss bedeutet nicht nur eine Vertiefung des Erfahrenen, sondern ermöglicht darüber hinaus auch eine ernsthafte erste Bewährung für die neu entdeckten Spielräume. Das Ende ist auch die Herausforderung an den Klienten, auf gleicher Ebene mit dem Therapeuten Abschied zu nehmen von einer Institution, welche die gemeinsame Arbeit bisher getragen hat.

Das Ende der Lektüre als Analogie

Und während wir uns über die Zusammenfassung noch einmal dem Problem eines Therapie-Endes stellen, rückt ein weiteres Ende in die Aufmerksamkeit: Gemeint ist der Abschluss eines Lektüreprozesses. Der Leser könnte die oben stehende Zusammenfassung als ein formgerechtes Angebot für das Ende seiner Lektüre nehmen und ein weiteres Verarbeiten des neu Gesehenen auf einen späteren Zeitpunkt hin verschieben. Er könnte aber auch nach einer Form von Abschluss suchen, die dem Vorbild eines Therapie-Endes folgt. In diesem Falle müsste er versuchen, eine Form von Abschluss herzustellen, die der neuen Erfahrung des Gelesenen wie in einer Analogie entspricht.
Nachschaffendes Verarbeiten
Um dem Leser diese Möglichkeit zu geben, werde ich dem eigentlich schon abgeschlossenen Gedankengang jetzt noch etwas hinzufügen. Dabei geht es um eine Erweiterung, die vielleicht nicht so sehr für einem Lektürebeitrag, wohl aber für eine strukturelle Therapie von Bedeutung ist: Ich werde im Folgenden das, was den Kern des vorliegenden Aufsatzes ausmacht, in die verdichtete Form eines Gleichnisses und zwar eines Märchens bringen. Hierbei handelt es sich um das Märchen von Rapunzel (Gebr. Grimm, 1812) . In diesem Märchen kann der Leser die Formel für das Besondere eines Therapie-Endes wiederfinden. Das Märchen bietet sich wie eine komplexe Analogie für das besondere Problem einer Therapie und ihres Abschlusses an. Im Märchen von Rapunzel wird die Therapie wie eine Schwangerschaft beschrieben. In einem Turm findet eine intensive Begegnung mit Folgen statt. Aber die Folgen wollen in einem längerem Prozess erst einmal ausgetragen werden, damit am Ende nach aller Verwirrung ein erlösendes Ja zur Entwicklung gesagt werden kann.

Der Turm im Märchen ist ein Ort, an dem etwas passiert, was so nicht von den beiden, die sich dort begegnen, geplant war. Anders geht es dagegen in der Vorgeschichte des Märchens zu. Die Schwangerschaft der Eltern ist sehr wohl geplant und wird lange Zeit vergeblich herbeigewünscht. Die Eltern von Rapunzel befinden sich in einer ständigen Erwartungshaltung, sind getrieben von unstillbarem Verlangen, was am Ende sogar erpresserisch auftritt und mit körperlich drohendem Verfall sich durchsetzt, wobei das Kind wegen eines unguten Handels ihnen gleich nach der Geburt wieder abgenommen wird. Im Rapunzelturm ergibt sich eine Schwangerschaft eher wie nebenbei, ja fast schon wie ein Unfall. Das lustvolle Beisammensein wird durch das Schwangerwerden von Rapunzel jäh unterbrochen. In der Urfassung des Märchens heißt es: Rapunzel sagt zur Gothel, dass ihr die Kleider immer enger werden, worauf diese zugleich die volle Bedeutung des Geschehens erfasst und ihre Veranlassungen trifft, der veränderten Situation Rechnung zu tragen. Rapunzel wird in eine Art von Wüstenei verbannt. Das setzt ins Bild und erkennt an, dass die Schwanger-Gewordene sich in einen völlig neuen und unbekannten Zustand versetzt fühlen muss. Das Gleichnis der Wüstenei meint eine wildnishafte Umgebung, in der es keine vertrauten Wege gibt, und wo alles wie zum ersten mal geschieht. So ähnlich ergeht es einem Klienten, wenn es ihm möglich wird, ein Bild anzuschauen, das sein Handeln in den tiefsten Gründen zusammenhält und darin eingeschlossen ein paar verwirrende Wendungen und Spielräume zeigt.

Austragen der „Schwangerschaft“

Das neue Bild drängt darauf, sich auszuentfalten und seine eigene Entwicklung zu nehmen. Aber dazu bedarf es noch einiger unterstützender Maßnahmen und der richtigen, hierzu passenden Haltung. Vor allen Dingen der Augenblick der erfolgten Fruchtbarwerdung, oder des „in Hoffnung-Kommens“ ist von einer herausragenden Bedeutung. Er verwandelt mit einem Schlag die vorangegangene Zweisamkeit in etwas wesentlich Komplizierteres. Der Therapeut kann durchaus darüber erschrecken, was er mit in Gang gebracht hat. Mit der „Schwangerschaft“ sind ihm die gewohnten Korrekturmöglichkeiten vergeben. Aus und Vorbei! Jetzt kommt es alleine auf ein Austragen des angelegten Ansatzes an. Und hierzu kann im Falle der Schwangerschaft der Vater, oder im Falle der Therapie der Therapeut, nicht wirklich mehr allzu viel beitragen. Es kommt für ihn vielmehr darauf an, dass er auch seine negativen Impulse mitbekommt, nämlich, dass ihm jetzt etwas (durch die Festlegung) entzogen ist und dass ihm das als Gestaltender in seinem tiefsten Inneren nicht so gut gefallen kann. Er muss diese Erfahrung in ein großzügiges, fast könnte man sagen „blindes“ Vertrauen in die Entwicklung umwandeln können. Im Märchen ist dies durch den impulsiven Sprung des gar nicht erfreuten Königssohn, vom Turm ausgedrückt und durch sein anschließendes Blindsein (weil er sich in den Dornen das Augenlicht verblendet). Der Klient trägt wie im Märchen alleine und in einer „Wildnis“ das Neue aus. Der Therapeut hat sich hierbei weitgehend zurückzunehmen und muss „nur“ bereitstehen, das ausgetragene Neue zu erkennen. Wichtig ist aber auch, dass dem Psychotherapeuten, der in dem Therapieprozess eine mehr oder weniger funktionalisierte Bedeutung einzunehmen hatte, am Ende auf einer neuen Ebene begegnet werden kann. In den Tränen von Rapunzel findet eine solche Begegnung statt. Es ist, auf die Analogie der Therapie bezogen, eine Art von Versöhnung und Anerkennung, die hier wie auf gleicher Ebene stattfinden kann.

Der Klient soll das Ende einer Therapie als sein, von ihm selbst gestaltetes, Ende erkennen können. Er kann in einer neuen Begegnung mit dem Therapeuten wie Rapunzel einen Prozess abschließen, an dessen Ende etwas steht, was nach Zeiten von Unsicherheiten und Verwirrungen (Wüstenei) in die Verfügbarkeit von etwas Eigenem hinübergegangen ist. Die erfahrenen und auch die zugemuteten Leiden und Entsagungen werden nach der umweghaften, nachschaffenden Entwicklung nun auf eine neue Weise bewertet und mit den Tränen, die im Märchen von Rapunzel auf die Augen des Königssohnes fallen, auch ganz und gar bejaht.

Eine Therapie, findet ihren Abschluss nicht schon in einer befruchtenden neuen Erfahrung, die in einem therapeutischen Prozess gleich einer Schwangerschaft stattfindet. Die Psychotherapie beinhaltet vielmehr noch das Austragen des Neuerfahrenen und das letztendliche Vorzeigenkönnen des lebensfähigen Neuen. Im Märchen sind die ausgetragenen Zwillinge sogar schon ein paar Jahre alt.

Analog hierzu hätte der Leseprozess mit der Zusammenfassung im letzten Kapitel auch schon enden können. Das „Austragen“ des Neu-Erfahrenen wäre dabei auf die Zeit nach der Lektüre verschoben. Damit der Leser das besondere Wissen um die Therapie- Abschlussproblematik aber schon in der Lektüre anwenden kann, war es mir wichtig, auch strukturell die Möglichkeit hierzu in dem Artikel einzurichten. Durch das angehängte Märchen kann der Leser seine neuen Erfahrungen, die er in dem Artikel machen konnte, noch in dem Leseprozess selbst durcharbeiten. Der Autor darf und muss darauf vertrauen.

Bildquellen

  • Alte Burgruine: Fotolia 5470229