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Denken in Paradoxien und psychodoxen Ordnungen

(denkenimwandel.blogspot.de, Mai 2010;
Fachzeitschrift Entwicklungstherapie; Heft 4 / 2012)

Paradoxie als unauflösbarer Widerspruch

 

Paradoxien lassen sich unter vielerlei Gesichtspunkten betrachten, z.B. unter sprachlichen, inhaltlich-faktischen oder auch unter rein logischen Gesichtspunkten. Eine solche systematische Art der Betrachtung des Paradoxiebegriffs möchte ich hier aber nicht entwickeln. Ich gehe im Folgenden vielmehr der Frage nach, welche Rolle und Bedeutung die Paradoxie oder das Denken in Paradoxien für die Wissenschaft der Psychologie in ihrer Entstehung und Weiterentwicklung hat. Mein eigenes psychologisches Denken folgt dabei einem bildanalytischem Konzept. Dieses setzt, wie ich zeigen werde, das psychologische Denken, so wie es sich bis heute entwickelt hat, auf eine konsequente Weise fort. Und dabei spielt die Paradoxie, und wie ich noch später ausführen werde das psychodoxe Denken eine entscheidende Rolle. Die Paradoxie steht gewissermaßen am Anfang einer Entstehung der neuen Wissenschaft vom Seelischen. Deshalb schauen wir uns jetzt an, was mit einer Paradoxie im Zusammenhang mit dem Psychischen denn genau gemeint ist und worum es im Wesentlichen dabei geht.

Mit einer Paradoxie meine ich einen Zusammenhang der von einem Widerspruch lebt. Der Widerspruch der hier gemeint ist, ist von prinzipieller Natur, und lässt sich, solange wir es mit einer Paradoxie zu tun haben, tatsächlich nicht auflösen. Häufig tun wir aber so, als könnten wir diese paradoxe Einheit durch ein genaueres Hinsehen z.B. oder durch ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge am Ende doch in etwas Widerspruchsfreies überführen. Die sprachlichen Vorgaben unserer Kultur, lassen uns ganz unbemerkt in dieser Weise voreingenommen sein. Nicht selten fühlen wir aber das Unauflösbare und setzen uns dann doch mit einem Augenzwinkern darüber hinweg: Sind doch andere Ziele für uns oft wichtiger als eine psychologisch korrekte Beschreibung. Im Folgenden möchte ich aber nun dem Paradoxen und seiner Bedeutung für das Seelische einen ganz besonderen Platz einräumen – einen Platz, den es in der Wissenschaft vom Seelischen, wie ich meine, und vielleicht auch darüber hinaus, verdient hat.

Täuschung

Ein erstes Problem, auf das ich eingehen möchte besteht darin, dass weite Teile der Wissenschaftsgemeinschaft eine Unauflösbarkeit von Widersprüchen schon als bloße Idee, nicht gerne hinnehmen. Vielmehr hofft man insgeheim darauf, dass alle Paradoxien – wenn sie nicht ohnehin auf einen Fehler in der Form zurückgehen – sich irgendwann einmal werden auflösen lassen. Wir beginnen diese Einstellung zu verstehen, wenn wir nachvollziehen können, auf welche Weise diese Hoffnung wachgehalten werden kann. Und dieser Kniff, der eine solche Erwartung aufrechterhalten hilft, sieht folgendermaßen aus:

Man betrachtet die paradoxe Einheit zunächst einmal wie von außen, so wie von einer Dritten Position aus, die gleichsam über den darin enthaltenden Gegensätzen steht. Der Gegensatz, von dem die konkrete Paradoxie handelt, wird dabei nun als das Produkt oder Ergebnis zweier Perspektiven gesehen, die gleichsam von außen an die Sache herangetragen werden Aus der ersten Perspektive leitet sich die eine und aus der zweiten Perspektive die andere Qualität ab. Auf diese Weise erhalten wir Qualitäten, die sich widersprechen, sich aber niemals direkt in die Quere kommen. Beide Quälitäten sind hier fein säuberlich getrennt und bei rechtem Licht betrachtet, mittels der beiden Perspektiven auch je an einem eigenen Ort zu Hause. Der innere Widerspruch einer Paradoxie scheint auf diese Weise wie aus der Welt geschafft. Wir wenden diese Methode alltäglich an, z.B. wenn wir sagen: Dieses Haus ist zu groß und zu klein zugleich. Auf den Widerspruch angesprochen gelingt es uns schnell, jeden Verdacht auf etwas Unauflösbares zu vertreiben. Wir sagen dann z.B.: Das Haus ist für den Einzelnen zu groß und für eine Familie zu klein, das sei es, was wir gemeint haben. Und schon haben wir aus einem paradoxen Gegensatz einen Widerspruch gemacht, der sich ordentlich auf zwei Ebenen verteilt – und das Paradox ist weg.

An der Gestalt eines paradoxen Würfels können wir uns dasselbe auch auf eine grafische Weise deutlich machen. Wollen wir in der vorliegenden Zeichnung störungsfrei einen Würfel sehen, müssen wir einen Teil des Bildes ausblenden. Hierzu haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder wir decken die untere Hälfte ab und erhalten einen Würfel von oben gesehen oder wir decken die obere Hälfte ab und erhalten einen Würfel von unten gesehen. In beiden Fällen produzieren wir ein jeweils widerspruchfreies Bild des Ganzen. Wir können also auch auf eine gemeinsame Gestalt schließen, auf einen Würfel, den wir je nach Perspektivenwahl in unterschiedlicher Weise vor uns haben. Das Gebilde aber, was diese besondere Interpretation zulässt, gibt die besagte Klarheit nur her, wenn wir bestimmte Teile des Ganzen abdecken. Im anderen Falle halten uns zwei handfeste Störungen in den beiden wechselnden Aufsichten von einer solchen Lösung und Interpretation des Ganzen ab.

Das Ausblenden oder Abdecken bestimmter Teile symbolisiert hier die Annahme, dass wir uns den Wirkungen des Ganzen gezielt entziehen können. Das aber entspricht nicht der Natur der seelischen Wirklichkeit. Im Seelischen sind wir vielmehr immer mittendrin und stehen nie an einem Ort, von welchem aus wir die Wirkungen eines Ganzen (eines Systems) einfach ausschalten können. Eine Methode, die dem Seelischen angemessen ist, muss dieses Mittendrinsein anders würdigen und das Unauflösbare von Widersprüchen aushalten. Sie muss sich fragen, was die Unauflösbarkeit selbst zusammenhält! Auf diese Weise muss sie nach einer Ordnung suchen. Damit stellt sie in der Tat einen neuen und sehr hohen Anspruch an ihr eigenes Tun. Auf die Zeichnung übertragen, heißt das, sie muss die raffinierte, in Widersprüchen lebende Konstruktion herausarbeiten, die zu der Täuschungsmethode selbst den Anlass gibt.

Ein Märchen als Gleichnis

Im Folgenden möchte ich von einer psychologischen Sichtweise berichten, die sich auf eine neue Weise mit dem Problem der Unauflösbarkeit von Widersprüchen auseinandersetzt. Hierzu müssen wir uns zu einem bestimmten geschichtlichen Schauplatz begeben. Es ist die Psychiatrie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts in Wien, der Ort, an dem die Psychoanalyse ihren Anfang nahm. Um zu veranschaulichen, auf welche Weise in Bezug auf die Bewertung des Paradoxen hier ein ganz neues Denken zu entstehen begann, möchte ich das Mittel eines Gleichnisses wählen. Gemeint ist das Märchen vom Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein aus den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm.

Zum Inhalt des Märchens

Drei Kinder, die sich durch ihre Augenzahl unterscheiden wachsen mit einer Mutter auf. Das Einäuglein und das Dreiäuglein sind die Stars der Familie. Die Mutter mit ihren beiden Favoriten erlaubt dem Zweiäuglein nur eine Randexistenz (beim Essen z.B. bekommt es immer nur die Reste). Das Zweiäuglein hat aber wie zum Ausgleich einen eigenen magischen Bereich mit einem echten Tischleindeckdich gefunden (da ist eine Ziege, die sie täglich hüten muss und welche ihr auf ein Sprüchlein, den ihr eine alte Frau verraten hat, immer einen vollen Tisch beschert). Mutter und Schwestern werden stutzig darüber, dass es der Verstoßenen bei allem Leid, das sie ihr zufügen, doch noch so gut geht, also versuchen sie hinter ihr Geheimnis zu kommen. Zunächst wird das Einäuglein zum Ziegenhüten mit auf die Wiese geschickt. Zweiäuglein versteht es aber, sein Schwesterchen in den Schlaf zu singen, bevor es sein Tischleindeckdich spricht. Es singt ihr ganz konkret das eine Auge in den Schlaf. Als das Dreiäuglein dran ist, geht aber mit dem Schlaflied etwas schief. Zweiäuglein verwechselt die Worte zwei und drei miteinander und singt: „Dreiäuglein schläfst Du, Zweiäuglein wachst Du?“. Eines der Augen bleibt dabei offen. Der schönen Eigenwelt und ihrem Zauber wird durch die Schlachtung des magischen Ziegentieres daraufhin ein Ende bereitet.
Dennoch, etwas konnte von dem Wundersamen weiterleben – wenn auch in verwandelter Gestalt. Denn das Zweiäuglein hatte auf Rat des besagten weisen Weibleins die Eingeweide des Zickleins vor dem Hause vergraben. Und daraus hatte sich am Tag darauf ein Baum mit silbernen Zweigen und goldenen Früchten entwickelt!
Die Einzige nun, die diese Früchte abbrechen konnte, war das Zweiäuglein. Ansonsten änderte sich nicht viel in der kleinen Familie bis ein junger Ritter vorbei kam und sich über die goldenen Früchte freute. Zweiäuglein, verstecktgehalten unter einem umgestürztem Fass – traut sich in dieser Situation, durch das Herausrollen eines goldenen Apfels auf sich aufmerksam zu machen. Danach wird es von dem Ritter als die Einzige erkannt, welche die schönen Früchte brechen kann und auf eigenen Wunsch von demselben auch mit fortgenommen. Der Baum, von dem die beiden Schwestern und die Mutter dachten, dass er ihnen erhalten bliebe, um die Vorbeireisenden auch weiterhin in ein Staunen versetzen zu können, verschwand aber mit dem Zweiäuglein am nächsten Tag und folgte ihm nach. Jahre später, wie das Märchen berichtet, stehen dann zwei Frauen vor dem Schloss, in dem Zweiäuglein inzwischen lebt und betteln um ein Almosen. Es sind die Schwestern. Zweiäuglein nimmt die beiden auf und sie finden eine Beschäftigung als Bedienstete am Hof.

„Zweiäuglein“ oder der doppelte Blick

Was zunächst einmal an dem Märchen auffällt ist, dass hier das Abnorme (symbolisiert im Ein- und Dreiäugigen) vorgezogen wird vor dem Normalen. Das Alltägliche oder das Normale (symbolisiert im Zweiäuglein) wird sowohl von der Mutter als auch von den Geschwistern wie etwas Verächtliches behandelt und ausgiebig unterdrückt. Die alltägliche Umgehensweise mit dem Seelischen, dargestellt im Symbol des Zweiäugleins, wird hier offenbar zum Mittelpunkt einer spannenden Geschichte. Die Entwicklung zeigt wie sich Zweiäuglein aus einem fremdbestimmten Versorgtsein herausentwickelt, um schließlich von eigenem Orte aus, das Gold seiner Fähigkeiten mit der Welt teilen zu können. Mit den Schwestern, die durch das normale Leben in ihre Schranken verwiesenen werden, kommt es am Ende in einer reifen Art und Weise wieder zusammen.

Schauen wir uns also zunächst das Bild oder Gleichnis „Zweiäuglein“ etwas genauer an. Die Zahl „zwei“ als Augenzahl ist vollkommen normal und unauffällig. Auffallend sind vielmehr die beiden Geschwister, die ja als einäugig und dreiäugig beschrieben werden. Wenn das Zweiäugleinbild uns einen Hinweis auf etwas Eigenes und Besonderes geben will, dann ist es vielleicht die Anspielung auf einen „doppelten“ Blick mit dem wir uns in der Welt orientieren können. Der doppelte Blick des Zweiäugleins entspricht dem unspektakulären bzw. alltäglichen Umgang mit dem Seelischen: Und das bedeutet: Ein erster Blick bringt uns z.B. in Kontakt mit dem Versprechen, das in der jeweiligen Sache liegt, auf die wir uns einlassen wollen, und der zweite Blick setzt uns dann ahnungsvoll in Beziehung dazu, wie sich die besagte Sache auch in die genau falsche Richtung entwickeln kann.

Die Zweiäugleinmethode bedeutet also: Jede Sache gibt es in einem ersten und in einem zweiten Blick. Wie beim ganz normalen Stereo-Sehen des menschlichen Augenpaars, stehen diese Bilder nicht nebeneinander oder oszillieren in einem Nacheinander. Sie stehen vielmehr wie ein Einziges Bild zusammen: Eines der beiden Bilder steht wie ein Nebenbild im Dienste des anderen und gibt diesem in einer gewissermaßen verschränkten Realisierung eine zusätzliche Orientierung und räumliche „Tiefe“.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Im Aufkeimen eines Verliebtheitsgefühles schwingt das potentielle Verlustleiden schon mit an, wenn sich das Aufwühlende einer Verliebtheit in uns aufbaut. Die Ambivalenz in der es bei der Zweiäuglein-Methode mit ihrem Entwicklungsversprechen und dem Gefühl für die Verkehrung derselben geht, bekennt sich zu einer Unauflösbarkeit von Widersprüchen. Jemand, der sehnsuchtsvoll auf seine/n Geliebte/n wartet, erfährt, dass das, was ihm ein Gefühl der Stärke gibt, (ich liebe und mir ist die andere Person wichtig) noch mit einer anderen Sorte von Erleben in Verbindung steht (ich kann das Warten nicht ertragen), was sich dann insgesamt in dem doppelbödigen Gefühl eines Bangens ausdrückt und ganz ohne eine Trennbarkeit in die beiden Gefühlsanteile über uns verfügt.

Drei Methoden und ein Problem

Dieses geheime Verstehen von Seelischem (Zweiäuglein-Natur), mit der wir im Allgemeinen ganz gut zurechtkommen, denken wir uns nun von zwei abweichenden Methoden umstellt, die damals das ernsthafte und wissenschaftliche Umgehen mit dem Menschen bestimmten. Und bevor ich diese beiden Methoden oder Konzepte im Bild des Einäugleins und des Dreiäugleins erörtern möchte, will ich noch schnell den Schauplatz nennen, an dem diese auf eine Neubelebung der Zweiäugleinmethode gestoßen sind.

Mit dem Ort ist die Psychiatrie gemeint, so wie sie vor ca. 120 Jahren ausgesehen hat. Wir können sagen, dass sie damals noch ein recht peinliches Feld für die Ansprüche einer Wissenschaft war: Der Psychiater stand in der Hierarchie der Medizin, ähnlich wie das Zweiäuglein in seiner Familie rangmäßig ziemlich weit unten. Kranken, in denen man oftmals nur Simulanten sah, glaubte man weitgehend mit Apellen an die Vernunft oder mit kalten Bädern u.ä. begegnen zu müssen. Den Neurologen oder Psychiatern, und da denke ich an Sigmund Freud, der auf diesem Feld damals gearbeitet hatte, ging es nicht viel besser als dem Zweiäuglein im Märchen, was dort bekanntlich die Ziegen hüten musste. In einem übertragenen Sinne ging es auch beim Umgang mit den Hysterikern um eine Art von Ziegenhüten (so im Sinne der ungeliebten, unangenehmen Arbeit jedenfalls). Aber eine alte weise Frau flüstere dem Zweiäuglein, dass das Hüten der Ziege ein lohnendes Geheimnis in sich trüge. Kurz: Freud, der in meiner Übersetzung jetzt für das Zweiäuglein steht, bzw. für die Zweiäugleinmethode, sagte Ja zu dieser Arbeit und entdeckte eine Art von Tischlein-deck-dich. Für den neugierigen Forscher auf dem Gebiet der psychoneurotischen Phänomene war das eine wahre Fundgrube. Was er auf diesem Feld der Beobachtung zu sehen bekam, führte ihn zur Einsicht in die Gesetze des unbewussten Seelenlebens, der Traumarbeit und der Fehlleistungen z.B.

Aber jetzt schauen wir erst mal, wie angekündigt auf die beiden Geschwister in dem Märchen. Ein- und Dreiäuglein vertreten symbolisch die beiden Methoden die zu der Zeit als Freud seine überraschenden Beobachtungen machte, an der Tagesordnung waren.

Da war (1.) die Methode, die ich die Einäugleinmethode nennen möchte. Diese lebt von der Idee einer alles umschließenden Einheit, aus der man wie der Kranke es beweist, gleichsam herausfallen kann. Dabei geht es z.B. um die Position eines religiösen oder sonst wie moralischen Verständnisses von den krankhaften Zusammenhängen: die Hysterie war in diesem Falle eine Art Strafe für eine Schuld, (Sünde) die der Betroffene vermutlich, denn hier durfte man viel spekulieren, auf sich geladen hat. Und auf diese Weise war das Leidensgeschehen abzuleiten und schlüssig. Die verschiedenen Widersprüchlichkeiten in der körperlich-seelischen Leidensgeschichte waren damit auf eine einfache Weise vom Tisch gebracht.
Die andere Methode (2.), die bei der Beurteilung der hysterischen Phänomene an der Tagesordnung war, geht davon aus, dass der Kranke nur simuliert. Diese Methode geht von einem wahren Geschehen aus, von welchem sich ein nur vorgetäuschtes Geschehen absetzen lässt. Hier steht der Widerspruch in Form einer Polarität (wahr/falsch) im Mittelpunkt. Was nicht passt wird methodisch durch den zu Beginn bereits angesprochenen Kniff zur Auflösung gebracht. Wie von einer dritten Position, also von außen, wird hier ein „Wahres“ und dort ein „Falsches“ gesetzt. Das Wahre ist das, was Physiologie und Neurologie ableitbar machen und das Falsche ist das widersprechende Phänomen, was der Hysteriker uns liefert, weil er z.B. eine Reizempfindung nicht hat, die er aber rein neurologisch haben müsste. Diese Methode setzt also zwei Perspektiven an: Die eine Perspektive handelt von dem Ineinander rein physiologischer Abläufe und die andere von einem Seelischen, was sich durch ein Vortäuschen und Lügen störend in die ärztliche Arbeit an der Physiologie des Körpers einmischen kann. Wie aus einer Gottesperspektive lässt sich mal die eine und mal die andere Perspektive zur Beschreibung der Phänomene heranziehen. Beides tut sich in der wissenschaftlichen Modellbildung gegenseitig nichts und stellt somit keinen wirklichen Gegensatz dar.

Bei dieser Methode handelt es sich um ein generelles Muster, das allgemein in der klassischen Naturwissenschaft seine Anwendung findet, ebenso wie in den verschiedenen, daran angelehnten Kombinationswissenschaften (Beispiel Medizin). Da hier das Dritte die zentrale Rolle spielt, können wir dieser Methode im Rahmen meines Gleichnisses, die Dreiäugleinmethode nennen.

Ich fasse noch einmal zusammen:

Damals war es so üblich, die Hysteriker als Simulanten in den Griff zu nehmen (Dreiäugleinmethode) und ebenso hoch im Kurs stand die Methode, sie als eine Art „Sünder“ zu behandeln, als Abtragende einer Schuld, die sie irgendwo und irgendwie auf sich geladen haben mussten (Einäugleinmethode). Heute wissen wir, dass beide Methoden unangemessen sind und dass sich ein neues Verstehen (Zweiäugleinmethode) zu entwickeln begann: Die normale Methode, die in unserer alltäglichen Wirklichkeitsbehandlung zum Zuge kommt, war der Schlüssel hierzu. Sie stellte, wie wir sehen werden, den beiden tonangebenden Konzepten etwas Ernstzunehmendes entgegen:

Das so genannte Ziegenhüten des Zweiäugleins (Freud im Problemfeld der Psychiatrie und Hysterie) brachte dabei etwas ganz Wunderbares an den Tag, es war für den, der zweiäugig auf die Sache schauen konnte, ein reich gedeckter Tisch, ein wahres Tischlein-Deck-Dich (Wille und Gegenwille, Logik des Unbewussten, Traumarbeit und Fehlleistung z.B.).

Noch einmal: Die Methode, die wir mit dem Bild des Einäugleins verbunden haben, sieht in der „Hysterie“ eine Bestrafung für etwas Sündhaftes. Für sie gilt das Ideal einer Widerspruchsfreiheit, welche alles Einordnen und Verstehen regelt: Die Gesundheit eines Menschen, so glaubt man, hinge davon ab, dass unser Handeln und Trachten sich in Einklang mit der Moral und ihrem Gut und Böse befindet. Das „Im-Einklang-sein“ wirkt hier wie ein regulierendes Prinzip: Der Kranke ist darin der „In Sünde-gefallene“, der dies folgerichtig in seinem Kranksein austrägt (Strafe Gottes). Vorherrschend in der Psychiatrie war aber die neurologisch-wissenschaftliche Methode. Sie bestimmte die offizielle Umgangsweise mit den hysterischen Phänomenen und deckt sich mit dem klassisch-naturwissenschaftlichen Denken allgemein. Und dieses Denken hat heute noch einen großen Einfluss. Aus diesem Grund möchte ich hier noch einmal gesondert auf die Naturwissenschaften eingehen.

Zwischenüberlegung: Die klassische Naturwissenschaft

Die Neurologie und die Psychiatrie der damaligen Zeit hatte ein ganz besonders Herangehen an die Sache. Es ist in den Grundzügen auch heute noch vorzufinden und deshalb möchte ich es noch etwas ausführlicher darstellen. Die Vorgehensweise lebt von einer bestimmten Grenzziehung. Als Grenze ist hier die Seite von Wirklichkeit gemeint, die wir mit dem Erleben zusammenbringen. Kurz: Die (klassische) Naturwissenschaft beschäftigt sich (und das genau ist ihre Abgrenzung) nur mit den Zusammenhängen, die auch erlebensunabhängig wahr sind oder anders formuliert, die in ihrer Wahr-Falsch-Qualität nicht vom Erleben abhängen.

Was auf diese Weise von den spannenden Zusammenhängen unserer alltäglichen Erfahrung abgespalten wird, muss sich natürlich woanders wieder zu Wort melden. Und das darf es höchst offiziell in der Form einer Geisteswissenschaft – also gleichsam wie in einem Gegenbild zur Naturwissenschaft. Hier darf das Ausgeklammerte sich dann auch auf eine deutlich andersartige Weise äußern – ohne dass es ernsthafte Folgen für das naturwissenschaftliche Denkens haben müsste. So hat sich das jedenfalls in den letzten drei Jahrhunderten bis ins Heute hinein eingerichtet.

Mit dieser Grenzziehung gegenüber der schwankenden Natur des menschlichen Erlebens konnte eine Befestigung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses und Bewusstseins geschaffen werden. Das ist ein wichtiger Schritt für die Entwicklung gewesen, welche die Naturwissenschaften genommen haben. Diese Grenzziehung und Befestigung derselben konnte im Weiteren nämlich für die Methode des Polarisierens genutzt werden. Und dieses Vorgehen fand überall seinen Einzug. Die Naturwissenschaften ließen sich auf die Dynamik von Polaritäten ein: Sie waren frei von der Gefahr, sich in der Beliebigkeit irgendwelcher Deutungen, die aus dem Erleben kommen, zu verlieren. Sie setzten mit diesem Denken fest, dass die Widersprüche sich jeweils auf verschiedenen Ebenen und Perspektiven befinden und sich somit nicht wirklich (also nicht logisch wirksam) in die Quere kommen können. Deutlicher: Eine direkte Berührung der Widersprüche untereinander war also gar nicht erst anzunehmen; und so bildeten sie auch kein Problem für die Ordnung schaffenden Modellbildungen. Dieses Denken beflügelte das Herstellen von dynamischen Modellen mit konstitutionellen Gegensätzen und Widersprüchen, die sich am Ende aber nicht wirklich, wie in einem Paradox begegnen und logisch stören konnten.

In diesem Sinne konnte die Neurologie z.B. einiges Sichere über die Abläufe in den neuronalen Bahnen sagen. Ihre Vorhersagen versagten aber in bestimmten Phänomenbereichen und hierzu gehörte der Bereich der hysterischen Phänomene. Nehmen wir ein Beispiel: Der Neurologe konnte z.B. die Unfähigkeit des Patienten, einen bestimmten Reiz zu empfinden, nicht erklären, denn alle Elemente der Reizkette funktionierten. Wenn er genau das in seinem Befund (bzw. Diagnose) beschrieben hätte, wäre diese Frage als wissenschaftlich noch nicht beantwortbar anerkannt und für eine weitere Klärung offen gehalten worden. Genau das taten aber damals viele Neurologen nicht. Sie machten vielmehr Aussagen, die ihre Wissenschaft überschritten. Kurz: Sie versuchten über die nachweisbaren neurologischen Zusammenhänge hinaus Spekulationen über das ausgeklammerte Seelenleben mit einzubeziehen. Und solche Aussagen sahen dann in etwa so aus: „Eigentlich funktioniert die Wahrnehmung, der Patient täuscht uns nur eine Stumpfheit gegenüber dem Reiz vor.“ Man sagte damals „er simuliert“. Die Naturwissenschaft handelte hier in einer Art übergriffigem oder auch naiven Deuten so wie jemand, der mithilfe einer Schallwellenanalyse etwas über die „Seele“ der Musik aussagen wollte.

Die Auslegung des seltsamen Verhaltens und Erlebens von Hysterikern als eine „gewollte“ Vortäuschung (Simulation) stellt eine Überspitzung des klassisch- naturwissenschaftlichen Polarisierens dar und eine Provokation für das sich selbst verstehende Seelische: Der Doppelblick, mit dem wir unseren Alltag ansonsten bewältigen, wird dabei, wie wir sehen werden, auf die Probe gestellt und weist den Weg zu einem neuen und tieferen Verständnis der Zusammenhänge.

Ein neues Sehen mit „Zweiäuglein“

In einer ersten spielerischen Version wird (dem Märchen folgend) jetzt eine neue, vielfältige Welt von Zusammenhängen entdeckt (Tischlein-deck-dich) und analog zum Märchen „schmeckt“ diese Welt unserem Forscher auch sehr gut – wobei wir berücksichtigen müssen, dass diese Welt zunächst einmal auch eine nach außen hin abgeschottete Eigen- und Inselwelt war. Sowohl im Märchen ist das so als auch in der Welt des Sigmund Freud, was die Anfänge seiner Forschungen betrifft.
Wie also schaut das Zweiäuglein auf die Sache? Beim Niederschreiben ist mir aufgefallen, dass ein Verstehen dieser Methode durch die Sprachgewohnheit schwergemacht wird, die in diesem Falle weitgehend aus einer fachspezifisch medizinischen und psychoanalytischen Literatur kommen. Also stelle ich das Muster des Zwei-Äugleinblickes zunächst einmal an einem anderen Phänomen dar, welches noch nicht durch die psychiatrische oder psychoanalytische Literatur eingefärbt ist. Nach erfolgter Beschreibung des Musters, können wir dasselbe dann recht leicht – wie ich denke – auf die neue Freud‘sche Sicht der „hysterischen“ oder „neurotischen“ Phänomene übersetzen, um diese Methode dann auch deutlich sowohl von der Dreiäuglein- (der Kranke simuliert) als auch von der Einäugleinmethode (aus dem Heil verstoßen sein) unterscheiden zu können.
Nehmen wir das Beispiel des sehnsüchtig Wartenden. Jemand erwartet „seinen Schatz“, aber der kommt und kommt nicht. Wenn sich beide darin noch nicht sicher sind, ein Paar zu sein, kann es passieren, dass der Wartende sehr leidet. Es spielt aber noch etwas anderes in diese Situation hinein. Der Wartende wird sich im Warten einer Bindung bewusst, von der er bis dahin so viel noch nicht gewusst hatte. Er wird von der Situation ergriffen, wie jemand, der den Erwarteten schon als zu ihm zugehörend bewertet. Der Wartende könnte das – vorausgesetzt, dass die seelischen Dinge sich so schön isolieren lassen – jetzt auch mit dem Gefühl eines Zugewinnes erleben, indem er etwa spürt, dass er hier schon bestimmte Wurzeln hat und dass ihm an dem anderen viel liegt.
Aber die Wirklichkeit produziert Erfahrungen oder Gefühle, die schräg dazwischen liegen oder wie aus einer Verschränkung von beiden sich beschreiben lassen. Wir können solche Gefühle und die dementsprechenden Verhaltensweisen nur schlecht in einer zerlegenden Weise beschreiben. Die unangenehmen Gefühle des Wartens beziehen in einer schwer beschreiblichen Weise die besagten Bindungs- oder Verankerungsgefühle mit ein und deshalb tut das Warten auch so richtig „schön“ weh.

Merkwürdigkeiten werden verständlich

Die Wirklichkeit des Normal-Leidenden, und das betrifft uns alle, sieht so aus, dass wir die paradoxe Natur, also die Zweiseitigkeit der seelischen Dynamik irgendwie anerkennen in unseren Gefühlen und Verarbeitungen. Es gibt aber auch Erlebensformen und Verarbeitungen, die diese Zweiseitigkeit und Paradoxie zu leugnen versuchen. Und damit sind wir bei den sogenannten psychopathologischen Phänomenen. Methoden dieser Art, also solche, die sich an dem Doppelbödigen unserer Realität vorbei zu drücken suchen, haben sich Freud im Umgang mit dem „Ziegenjob“ plötzlich erschlossen. Sie sind ihm bei seiner Arbeit aufgegangen – natürlich nicht mit einem Schlag. Aber an diesem Ort und mit diesem Klientel.
Bevor ich nun an dieser Stelle weitermache, möchte ich am Beispiel des Wartenden noch einen Hinweis darauf geben, wie dieses Verleugnen stattfindet und funktioniert. Stellen wir uns ganz einfach vor, der sehnsüchtig Wartende würde in seiner misslichen Lage plötzlich behaupten, er habe seinen Partner sowieso schon durchschaut und ihn auch schon beim letzten Treffen in diesem oder jenem Punkt nicht wirklich glauben können und kurzum, er wisse es eigentlich schon länger, dass der andere, auf den er wartet, es eigentlich nicht wert sei. In diesem Falle würde der so zu sich Sprechende das tatsächliche Verbundensein verleugnen und die durchaus fühlbare Bindung, die zu einer produktiven Resonanz für vieles Weitere werden könnte. Diese Bindung, die ihn jetzt also ein bisschen weh zu tun droht ist genau die Seite, die es im Beispielsfalle hier zu unterdrücken gilt (wir können dabei an die Freud‘schen Begriffe der Abwehr und Verdrängung denken) Dieses Leugnen (nicht zu verwechseln mit der Verleugnung im Sinne eines seelisch „frühen“ Abwehrmechanismus, den Freud erst in einem späteren Forschungsabschnitt entdecken konnte) schafft dem Betroffenen jetzt einen riesigen Aufwand an den Hals und setzt ihn den kompliziertesten und aufwendigsten Situationen und Wendungen aus.
Dieselbe Methode, die versucht, die unangenehme Seite des Ganzen zu leugnen, bindet den Betreffenden nun um so stärker an genau die Sache, die er grade auszuklammern sucht. Die tatsächliche Bindung wird dabei in ihrer Bedeutung immer mächtiger: Der Betroffene verliert nicht etwa den Kontakt zu der ausgeklammerten Sache, wie es z.B. in psychotischen Zusammenhängen der Fall ist, sondern er versteigt sich vielmehr immer weiter in dieselbe hinein und gerät dabei mehr und mehr in eine verdrehte und schließlich dauerhaft verkehrte Wirklichkeit hinein.
Ein solches Ausklammern zeigt sich in seinem Funktionieren auch in Fehlleistungen und Versprechern z.B., die uns auch jenseits einer leidend gewordenen Gesamtstruktur begegnen. So berichtet Freud von einem Chef, der zu seiner kleinen Belegschaft, einen Toast aussprechend, sagt: ich möchte auf ihr Wohl aufstoßen. Die Fehlleistung zeigt, wie sich hier etwas gleichsam mit Gewalt durchsetzt, wenn auch etwas „verrückt“ und ohne den Betroffenen in Form einer Krise ganz „ordentlich“ erst einmal auf das Problem aufmerksam zu machen. Das Problem schlägt einfach zu: Durch die Gunst der wortbaumäßigen Verwandschaft zwischen dem „Auf“- und dem „An“-stoßen wird es der Seelendynamik des Chefs möglich, einen mühsam zurückgehaltenen Wunsch einmal Leine zu lassen. Für den Bruchteil einer Sekunde, so könnte man sagen, darf etwas davon „herausschießen“. Wahrscheinlich geht es um den Wunsch, den Mitarbeitern gegenüber einmal sehr direkt sein wahres Unbehagen auszudrücken – ein Unbehagen, dass vielleicht in den Worten „ich find Euch eigentlich zum Kotzen“ seinen Ausdruck sucht. Die Anspielung auf das, was uns im wörtlichen Sinne „hochkommen“ kann, wird für das versteckte Ausbringen des Wunsches nutzbar gemacht (konkret durch das Vertauschen der Vorsilbe „an“ mit der Vorsilbe „auf“).

Startprobleme für ein neues Denken

Die Entdeckungen Freuds betrafen im Wesentlichen das „unlogisch“ erscheinende Seelische bzw. die ihm eigene und besondere Logik. Dabei ging es um Zusammenhänge, die zwar Ordnungen und Gesetze zeigten, sich aber einem reinen, logischen Erschließen gegenüber verweigerten. Für Freud ging es um eine „Logik des Unbewussten“ und das bedeutet zugleich: um Zusammenhänge einer neuen Wissenschaft (Psychoanalyse, Tiefenpsychologie).

Die Erforschung dieser Zusammenhänge bekam sehr schnell eine Art Eigenleben. Auf das Märchen bezogen können wir uns fragen: Warum sollte Zweiäuglein sich gegen den Widerstand der Schwestern und der Mutter, um einen besseren Platz am Tische der Familie mühen? Hier hatte Zweiäuglein, jedenfalls was das Essen betraf, alles was das Herz begehrte. Auf unser Thema zurück übersetzt heißt das: Die Psychoanalyse bekam erstmal einen ungeheuren Schub nach vorne – nicht zuletzt durch die provozierende Verbindung ihrer Theoriebildung mit Dingen, die im öffentlichen Leben und in der Diskussion Tabu waren, den sexuellen Dingen nämlich. In einem Kontext der ärztlichen Hilfeleistung war das schon sehr brisant, das Erforschen von sexuellen Phantasien und ähnlichem. So lässt sich auch das Abschotten und das Zirkelbilden um die Person von Sigmund Freud verstehen.

Die erste Position im Umgang mit dem Neuen ist durch die Wiederholungen im Märchen gekennzeichnet, welche mit der wundersamen Einrichtung eines solchen Tischleins beschrieben wird. Man konnte auch in der Situation der frühen Psychoanalyse immer wieder alles „verschwinden lassen“ und sich im Schutze einer anerkannten Existenz als Neurologie-Arzt z.B. zurück in die alte Ordnung retten. Zur Not konnte man sich auf die Formel „wer heilt hat Recht“ herausreden, und auf einen möglicherweise nicht mehr so fernen Zeitpunkt verweisen an dem die naturwissenschaftlichen Grundlagen zum Verständnis dieser Phänomene vorliegen würden.
Was wir in Analogie zum Märchen in einem nächsten Schritt erleben, ist der Versuch der Wissenschafts-Gemeinschaft, in das seltsame Geschehen einzugreifen. In der kleinen Familie, von der das Märchen erzählt, fragte man sich: Was geschieht da gerade mit unserem Zweiäuglein, das doch eigentlich leiden müsste und stattdessen so frisch und gut gelaunt ausschaut. Was nährt unser uninteressantes, eine Randexistenz besetzendes, Schwesterchen neuerdings? Und so fragte man sich schließlich, ob man dem Geheimnis nicht mit den bewehrten Methoden des Einäuglein oder Dreiäuglein auf die Spur kommen könne. Zunächst versuchte man das Problem mit dem Einäuglein beizukommen: Man versuchte also das, was dem Schwesterchen Neues begegnet war (und wovon man nicht das Geringste verstand), zunächst einmal mit der Einäugleinmethode zu klären:
In einer ersten Verkürzung nahm man an, dass es sich bei den neuen Beobachtungen um eine Art von Katharsis (Abfuhr von Spannungen) handeln müsse, welche die Symptome zum Verschwinden bringen kann. Für das Denken nach der Einäuglein-Methode lag es nahe, sich eine „eingeklemmte“ Seele zu denken, die sich durch ein Abreagieren gleichsam wieder Freiheit verschafft und sich dann wieder mit ein störungsfreies Nervenkostüm „zurückzumelden“. Nicht zuletzt ging es ja meist um so peinliche Dinge wie die Sexualität, von der man sich eine Schuld zeugende und Verklemmungen produzierende Wirkungsweise gut vorstellen konnte. Diese einfache Erklärung mit ihren zentralen Anleihen in einem Denken, das auf das Ideal einer „Geschlossenheit ohne Reste“ ausgerichtet ist, schaffte es natürlich nicht, dem Zweiäuglein sein Geheimnis zu entreißen. Vor einer solchen Verwechslung wusste sich auch die Entwicklung der Psychoanalyse zu schützen. Die Methode ließ sich nicht auf die besagte Weise verkürzen. Im Märchen wird das Einäuglein sanft und erfolgreich davon abgebracht, vom Geheimnis etwas mitzukriegen, Zweiäuglein singt es in den Schlaf.

Rückschläge und Verwechslungsgefahr

Etwas anders lief es dann allerdings mit der sogenannten Dreiäugleinmethode. Die Objektivierungsmethode mit ihrem Denken von einer dritten und von außen auf die Widersprüche sehenden Warte verwirrte das Zweiäuglein. Das klassisch-naturwissenschaftliche Denken geht ja von Systemen aus, deren Belastung und Entlastung sich jeweils aus dem Gegeneinander von Wirkungen oder Kräften erklären: Entlastung oder Heilung findet dann über das Finden und Herstellen einer vernünftigen Ausgleichsform statt. Die grundlegende Spannung wird dann darin gleichsam aufgelöst. Die Methode des Zweiäugleins, in der es stattdessen um die Unauflösbarkeit von Widersprüchen geht, konnte mit einer solchen Logik und Denkmethode aber leider noch allzu schnell verwechselt werden!
Es ist sprachlich eben sehr schwer zu unterscheiden, ob eine Widersprüchlichkeit nun so verstanden wird, dass sie in der vermittelnden Gestalt von etwas anderem „aufgehoben“ ist, oder ob sie als ein unaufhebbarer Gegensatz in etwas anderem weiterlebt. Eine Verwechslung des Neuen mit der bewehrten naturwissenschaftlichen Denkweise liegt als Gefahr tatsächlich nah. Und es kommt geschichtlich gesehen noch ein Wichtiges Weiteres hinzu: Ich denke, dass unser Zweiäuglein auch eine, wenn auch nur unbewusst wirksame Neigung dazu hatte, bei aller Faszination am Neuen, aus dieser außergewöhnlichen Rand- und Sonderwelt auch wieder herauszukommen. Wahrscheinlich wäre sie allzu gerne von der Familie anerkannt. Ein unbewusst wirksamer Wunsch auf ein „dummes“ Verwechseln und Erwischtwerden, kann also durchaus hier angenommen werden.

Wie das Zweiäuglein hatte wohl auch die Psychoanalyse in ihrer ersten Zeit über weite Strecken den Wunsch, obwohl es nicht gut hierfür aussah, eine Anerkennung aus der Wissenschaftsgemeinschaft zu erhalten. Erst nach der Ziegentötung in der zweiten Phase des Zusammenlebens, wo der Baum mit den goldenen Früchten schon vor der Türe steht und sie versteckt gehalten wird, da wünscht sie sich nichts sehnlicher, als aus dem bestehenden Rahmen herauszukommen und mit fortgenommen zu werden, was sie dem Ritter; der sich für ihre besonderen Fähigkeiten interessiert, auch zu erkennen gibt. Zunächst aber mag die Neigung zu Scheitern und zu einem Rückfall in die Geborgenheit des Alten durchaus mit am Werk gewesen sein. Und so passiert dem Zweiäuglein eben die besagte kleine Nachlässigkeit: Beim Versuch, sich das Dreiäuglein als Zeugen beim Tischleindeckdich-Akt vom Hals zu schaffen, vertut es sich und singt dreimal im Wechsel falsch: Dreiäuglein wachst Du? Zweiäuglein schläfst Du? Das „Unglück“ passiert und über die Verwechslung fliegt das geheimnisvolle Treiben auf und findet in dieser Form jedenfalls ein jähes Ende. Der Versprecher (Zwei- mit Dreiäuglein) weist darauf hin, dass die Verwechslungsgefahr zwischen den beiden Methoden nicht zu übersehen ist:
Das bewehrte Denken in Polaritäten und ihren Ausgleichsformen, welche das Gegeneinander in einem Dritten aufheben (bzw. auflösen) – stellt eine große Versuchung dar, mit dem Denken in Paradoxien und ihren unauflösbaren Widersprüchen und Ambivalenzen verwechselt zu werden. Eine solche Verwechslung gibt es im Falle der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse tatsächlich. Und die neue Sicht auf die seelischen Phänomene fällt dabei gleichsam wieder ein Stück zurück, zurück in die altvertrauten Formen der klassisch-naturwissenschaftlich Modellbildungen.
Das Märchen hilft uns aber auch hier im Verstehen weiter. Etwas bleibt von dem Neugefundenen zurück – wenn auch in verwandelter Gestalt: Im Märchen hatte das weise Weiblein dem Zweiäuglein geraten, nach den Innereien des geschlachteten Zickleins zu fragen und diese vor dem Hause zu vergraben. Und wie wir wissen, ging aus den Eingeweiden am nächsten Tag ein Baum mit den tollsten Früchten hervor. Es ist ein Baum mit silbernen Blättern und goldenen Früchten, die aber kein anderer als nur Zweiäuglein brechen kann. Der Baum schmückt zwar das Haus der Familie („Medizinische Wissenschaft“), die Früchte kann aber kein anderer als Zweiäuglein von ihm holen. Ebenso erging es der neuen, tiefenpsychologisch zu nennenden Methode und Wissenschaft vom Seelischen. Die neuen Erkenntnisse entzogen sich, genauso wie die tollen Früchte im Märchen, einem generellen Zugriff der damaligen Psychiatrie und Neurophysiologie. Sie konnten die neuen Entdeckungen nicht wirklich in das Eigene Denken übersetzen. Diese blieben ihnen im Wesentlichen fremd. In den nachfolgenden Jahren versuchte man ersatzweise durch das Auffinden der hirnphysiologischen Voraussetzungen (z.B. Spiegelneuronen) die neuen Phänomene immerhin zu bestätigen.

Den vertrauten Ort verlassen

Das Neue musste den alten Ort verlassen, an dem die beiden anderen Haltungen und Methoden zu Hause waren, die sich für die Vorgehensweise eines Zweiäugleins gleichsam schämten. Unterstützung erfährt die neue Methode wie im Märchen nicht durch die Familie, sondern sie erhält sie von einem Ritter. Sie bittet darum, mitgenommen zu werden, um von dem Ort fortzukommen, an dem es für sie keine Entwicklung mehr gibt und sie verzichtet dabei auf andere Belohnungen, die ihr für die goldenen Früchte zur freien Wahl offen gestanden haben. Wichtig. ist auch, dass es hier ein Ritter ist, mit dem sie wegziehen kann und nicht ein Königssohn, der in einem Märchen meist für das erreichte Ziel steht. Der Ritter ist eher ein Hinweis darauf, dass es um einen liebenden Schutz geht und um die Bereitschaft, etwas zu erstreiten und zu verteidigen. Die Entwicklung, soll hier noch nicht als abgeschlossen verstanden werden. Eher geht es darum, dass an dieser Stelle der Entwicklung ein ganz neues Kapitel noch aufgeschlagen werden muss. Hierzu erzählt das Märchen aber nichts mehr im Detail; es gibt nur einen Hinweis darauf, wo die Entwicklung hingeht und voraussichtlich am Ende stehen wird. Wir erinnern uns, nach einigen Jahren stehen die inzwischen alt gewordenen Geschwister vor der Tür des Zweiäugleins, das sich inzwischen in einem eigenen Zuhause eingerichtet hatte. Die Schwestern weuden von Zweiäuglein gut aufgenommen und gepflegt, so dass sie ihr grobes Handeln in der Vergangenheit bereuten, und eine Bleibe bei ihr finden konnten.

Das Bild einer zukünftigen Psychologie

Hier möchte ich mich nun der Frage stellen, wohin die Entwicklung in diesem Bereich voraussichtlich geht und wie eine Psychologie am Ende aussehen wird, wenn wir unseren Überlegungen folgen wollen. Ich glaube, die Situation der neuen Wissenschaft Psychologie, wird in zweifacher Weise eine Änderung erfahren. Die eine zielt auf das Selbstverständnis des Eigenen in dieser Wissenschaft und die andere auf ein neues Verständnis von Wissenschaft im Allgemeinen. Letzteres heißt: Ein neues allgemeines Verständnis von Wissenschaft muss herausgebildet werden, damit die Psychologie als ebenbürtig akzeptiert und mit Gewinn in die Gemeinschaft der Wissenschaften aufgenommen werden kann. Wenn das gelingt, wird die Wissenschaftsgemeinschaft am Ende von der Psychologie etwas gelernt haben, etwas, das ihr allgemeines Selbstverständnis verändern wird. Beginnen wir aber mit der Frage nach dem Neuen und dem wissenschaftlich Eigenen des Seelischen.

Erlebbare Zusammenhänge

Gegenstand der Wissenschaft vom Psychischen sind die erlebbaren Zusammenhänge. Das bezieht alles ein, was die Qualität der Erlebbarkeit besitzt und meint damit alle bild- und gleichnishaften Verhältnisse, in denen wir uns „bewegen“ und auch die Dinge um uns herum. Wenn wir z.B. „gespannt“ darauf sind, zu erfahren, wie eine bestimmte Idee ankommt oder „heiß“ darauf sind uns das heimlich gedrehte Video von der Familienfeier anzuschauen oder „aufgekratzt“ nach einer super gelaufenen Prüfung, von der wir aber noch nicht das offizielle Ergebnis kennen – immer meinen wir einen besonderen seelischen Zusammenhang. Selbst wenn wir davon reden, dass ein Vortrag „seinen Faden verliert“ oder ein Gespräch „versandet“. In allen diesen Fällen gilt: Die Bilder sind bereits das Erlebbare, also der besagte seelische Zusammenhang. Diese bildhaften Zusammenhänge sind nicht etwa nur Abbilder einer Wirklichkeit, also einer wahren Wirklichkeit, die noch hinter diesen Dingen liegt – wie man es nach der Dreiäugleinmethode z.B. sehen könnte.
Wie kommen diese seelischen Zusammenhänge nun zustande, wo kommen sie her? Die Zusammenhänge bildhafter oder erlebbarer Natur stellen sich – und das ist das Besondere – gegenseitig her. Wir finden immer nur Gegebenheiten, wie sie sich im Bild einer anderen Gegebenheit darstellen (das Gespannte eines Bogens z.B. im Kontext einer offenen Bewertung oder das Aufgekratzte im Kontext einer erwarteten positiven Überraschung etc.). Das Eine erscheint im Bild des Anderen, denn erst darin hat es eine Form und eine Gestalt. Die seelischen Zusammenhänge sind immer schon Gleichnisse und nicht irgendwelche Rohlinge, auf die von außen erst noch etwas deutend einwirken muss. Nichts existiert also im Seelischen, ohne bereits in etwas anderen schon gebrochen zu sein. Der ganze Reichtum des Seelischen geht auf diese Art des Herstellens von Wirklichkeit zurück. Dabei nehmen sich die seelischen Verhältnisse und Einheiten gegenseitig in den Dienst.

Freud- und Leiderfahrungen setzen sich dabei fortwährend in ein bewertendes Verhältnis und zwar zu dem, was gerade der Stand einer Entwicklung ist. Dabei kommt es durchgehend zu Widersprüchen, auch wenn diese nicht immer explizit wahrgenommen werden. Eine Verpflichtung z.B., die ein Partner uns ungefragt entgegenbringt, welche die Verbindung neuerlich absichern soll, lässt vielleicht einen ersten Riss in der gewachsenen Beziehung aufkommen (Misstrauen durch ein Zuviel an Absicherung). In so einem Falle würde die erwünschte Bindung ganz im Gegensatz zur beabsichtigten Wirkung um einiges unsicherer werden. Hier hätten wir ein Beispiel dafür, dass sich das Handeln im Rahmen einer Entwicklung immerzu auch gegen seine eigenen Zwecke verkehren kann. Das bewertende Erleben kann einen solchen Prozess schon in den Ansätzen erspüren und dann auch eine Korrektur einleiten. Die Erfahrung von Freude oder Leid warnen uns davor, wenn es falsch zu laufen droht (Leid) oder stacheln uns an, wenn es in die richtige Richtung geht (Freude).

Widersprüche sind also in diesem Verständnis vom Seelischem etwas ganz Besonderes, sie haben die Fähigkeit zur Strukturierung in sich und sind die Grundelemente einer ersten groben Ordnung in einer ansonsten sehr komplex strukturierten, und irgendwie auch „unordentlichen“ Natur des Seelischen.

Widersprüche neu verstehen

Ein solches Verständnis von Gegensätzen oder Widersprüchen ist nicht mehr polarisierend, es handelt vielmehr von Verhältnissen, in denen eine Seite die andere in ihren Dienst nimmt. Dabei werden die Dinge nicht miteinander vermischt, sondern in die eine oder andere Konstruktion oder Nutzung gebracht. Am Beispiel einer Spirale möchte ich die „Struktur“ des Widerspruchs einmal auf eine grafische Weise deutlich machen. Wir können bei einer Spirale zwei Zusammenhänge unterscheiden. Einmal sehen wir in ihr etwas, das mit der Ausdehnung und Verlängerung einer Entwicklung auf ein bestimmtes Ziel zu tun hat. In diesem Falle sehen wir die Kreisbewegung als eine Ausschweifung, die immer wieder gegen den nach oben aufsteigenden Gang der Entwicklung antritt, Stufe für Stufe und so das Erreichen des Ziels verzögert. Wir können den Zusammenhang aber auch als einen Versuch sehen, vor einer Endlichkeit zu fliehen. Dann sehen wir, wie ein Kreis sich schließen will, und wie diese Schließung aber durch eine permanente, und in jedem kleinen Schritt stattfindende, Steigung konsequent hintertrieben wird.

Ob wir die Entwicklung über ein wiederholtes Ausschweifen voranbringen, oder vor der Endlichkeit einer Sache immer nur fliehen, das erweist sich in der Tat als etwas Gegensätzliches. In dieser Formulierung haben wir auch schon ein Beispiel für einen Widerspruch, wie er sich im normalen Alltag unseres Seelenlebens und nicht nur im Bereich des Grafischen beobachten lässt.

Beeinträchtigungen im Seelischen

Von einer so beschriebenen psychischen Natur ausgehend, lässt sich jetzt auch ableiten, was eine „Störung“ ist, und was der Analogie einer Krankheit entsprechend das Seelische und seine Entwicklung beeinträchtigen kann. Nach dem hier entwickelten Verständnis vom Seelischen, was ich gerne „bildanalytisch“ nenne, können wir von zwei Schwachstellen innerhalb des Psychischen ausgehen. Die Erste hat damit zu tun, dass die Erfahrung von Kehrseiten in einem bestimmten Problembereich fehlen kann. Die Kultur gibt uns bestimmte Prozesse und Entwicklungen vor und damit sind auch bestimmte Verkehrbarkeiten gegeben. Wir müssen diese athmosphärisch, wie etwas Potenzielles mitbekommen, sonst können wir unsere Entwicklungen nicht intuitiv steuern und die Möglichkeit zu einer wirklichen Einflussnahme wird uns von irgend einer Seite abgenommen (möglicherweise ist es die Mutter, die einen solchen Mangel bis ins Erwachsenenalter kompensiert). Das kann lange gut gehen. Irgendwann geschieht das Unerwünschte dem Betroffenen aber dann doch „alleine“ und ungeschützt, und jeglicher Kontakt für ein passendes Einordnen und Verstehen fehlt. Die Folgen sind immer spektakulär, kaum nachvollziehbar für den Außenstehenden und alle normalen Grenzen sprengend. Die erlebnismäßige Steuerung von Entwicklungen über eine kulturspezifische, und auf die Kehrseiten von Entwicklungen hin geeichte Freud-Leiderfahrung, kann also – und das ist die erste Schwachstelle für das Seelische Funktionieren – in einem bestimmten Bereich des Lebens schwerwiegend „behindert“ sein. In diesem Falle können Entwicklungen jäh abstürzen oder es kommt zu Erlebnissen, die extrem abweichen von der gemeinsam geteilten Realität. Wir haben es hier, weit gefasst, mit den Phänomenen der Kriminalität und mit den Phänomenen des Psychotischen (ebenfalls im weiten Sinne) zu tun.

Eine zweite Schwachstelle hängt dagegen nicht mit der fehlenden Erfahrung sondern mit der Drehbarkeit von Funktionen zusammen. Wenn das Eine im Dienst des Anderen steht, kann sich genau dieses Verhältnis auch drehen. Eine Kultur schränkt ein beliebiges Drehen ein. Sie bevorzugt Entwicklungen und stellt deshalb die Erfahrung von Freude und Leid in den Dienst solcher übergreifenden und von ihr geförderten Prozesse. Aus diesem Grunde kann es passieren, dass die Erfahrungen von Freude und Leid, welche im Normalfalle der konkreten Entwicklung Orientierung geben, sich dagegen verwehren, lediglich Diener von Entwicklungen zu sein und im Weiterem sich gegen diese Rangordnung verschwören. Sie versuchen dann den Spieß umzudrehen. Alle Entwicklungen sollen von nun an ihnen dienen. Das heißt: Ein Erzwingen wollen von Glücksgefühlen oder ein generalisierendes Leidvermeiden wird zur obersten Devise. In einem solchen Fall haben wir es mit Zwängen im weiten Sinne zu tun und mit dem was wir klassisch unter einer neurotischen Störung verstehen.

Therapie des Seelischen

Die angemessene „Therapie“ unterscheidet sich nach den beiden Sorten von Problemfällen. Im ersten Falle, wo die Kehrseitenerfahrungen in einem bestimmten Problembereich fehlen, und daher eine Zwiesprache zwischen den Freud-Leiderfahrungen und den zugehörigen Entwicklungen nicht funktionieren, müssen die fehlenden Erfahrungen konsequenter Weise nachgeschaffen werden. Das kommt aber einer sehr schwierigen und langwierigen Nachentwicklung gleich und ist aus verschiedenen Gründen oftmals nicht möglich. Deshalb müssen unter Umständen seelische Prothesen für den Betreffenden konstruiert und entwickelt werden. Diese müssen ihm, wenn eine Nachkultivierung im betreffenden Bereich nicht mehr möglich ist, eine Abstützung in den Lebenslagen geben, in welchen er nicht aus dem Eigenem heraus die Entwicklung „verstehen“ und in verträglicher Weise korrigieren kann.
In einer Therapie dagegen, welche sich auf den zweiten Störungstyp bezieht, (Behandlung von Psycho-neurotischem) geht es darum, Veränderungsspielräume wieder herzustellen. Die Spielräume, in denen sich unsere Entwicklung immer wieder neu und passend auf die konkreten Umstände und Lagen hin ausrichten kann, sind durch das Diktat einer Obsession oder einer um sich greifenden Leidvermeidung außer Gefecht gesetzt. Sie sind aber als Implikationen der gelebten Entwicklungen immer noch im Geschehen mit enthalten und wirken auf die verborgenste Weise mit. Sie sind prinzipiell wieder belebbar. In einer Psychotherapie dieser Art geht es also um Veränderungsspielräume und zwar um eine Erneuerung oder Wiederherstellung derselben. Auf diesen Punkt werde ich in der Zusammenfassung und Gegenüberstellung noch einmal eingehen.

Das neue Denken im Vergleich

Im Folgenden möchte ich das neue Denken nach dem Schema:…
1.) Bedeutung der Widersprüche,
2.) was versteht die Psychologie unter einer Störung und
3.) was versteht sie unter einer Therapie,
…mit den beiden konkurrierenden Formen, die wir dem Ein- und dem Dreiäuglein zugeordnet haben vergleichen.

Einäugleinmethode: Da ist zunächst das einfache Prinzip, das von der Haltung lebt, ein Heil- oder Ganz-Sein sei der Dreh- und Angelpunkt einer gesunden seelische Natur. (1) Widersprüche stellen eine Abkehr von der Ordnung dar und bringen (2) Leid, also Störung und Krankheit über den Menschen. Die (3) Therapie läuft nach diesem Seelenbild auf eine Art von Reinigung hinaus. Beispiel: Geständnis, Reue und Sühne.

Dreiäugleinmethode: Das zweite Prinzip, was wir im Märchen mit dem Bild des Dreiäugleins verbunden haben, sieht den Grund für die (1) Widersprüche im Seelischen darin, dass wir die Wirklichkeit unterteilen und durch das Ansetzen von Perspektiven in alle möglichen Richtungen ausdifferenzieren können. Die Widersprüche, die sich im Zuge dieser Aufgliederung zwischen den einzelnen Phänomenen zeigen, tun sich nach dieser Theorie so lange nicht weh, wie sie durch eine geschickte Trennung auf verschiedenen Ebenen gut festgehalten bzw. kontrolliert werden können (formale Widerspruchsfreiheit). (2) Eine „Störung“ im Psychischen ist von dieser Theorie her die Folge einer verlorengegangenen Kontrolle über das System dieser Trennungen. (3) In der Konsequenz hierzu ist eine Therapie dann die Widerherstellung oder Erweiterung dieser Kontrollfähigkeit. Beispiel: bei einer Flugangst kann man versuchen, die statistisch realen Risiken gegen die gemutmaßten Risiken abzusetzen, um damit eine Neubewertung zu erreichen. Oder wir machen in einem anderen Zusammenhang die Erfahrung, dass wir einen tiefen Groll, der sich eigentlich gegen eine Person aus der Vergangenheit richtet, auf den Nachbarn übertragen.

Zweiäugleinmethode:
(1) Widersprüche
In einer zeitgemäßen Wissenschaft vom Seelischen haben Widersprüche eine dreifach verschiedenartige Herkunft und Bedeutung. Widersprüche entstehen zunächst einmal dadurch, dass Bedeutungszusammenhänge nicht isoliert für sich stehen, sondern sich in einem gegenseitigen Auslegen ihrer jeweiligen Ansätze erst herstellen. Ohne dass wir uns erst noch ein Zweck setzendes Drittes denken müssen stellen die erlebbaren Zusammenhänge also Differenz und Widerspruch untereinander her. Nehmen wir das „Beginnen“ als einen Zusammenhang, an dem wir das Gesagte einmal überprüfen wollen, Das Beginnen legt, ob wir es wollen oder nicht, alle Zusammenhänge, in denen sich etwas abrunden und schließen will auf einen Prozess des Beendens hin aus (Beginnen impliziert das Beenden und trägt es perspektisch in sich mit). Jeder erlebbare Zusammenhang ist auf eine ähnliche Weise perspektivisch. Widersprüche sind in den erlebbaren Zusammenhängen also angelegt wie die Kehrseiten einer Sache oder einer Entwicklung.

Es gibt aber noch eine zweite Art von Gegensatz im Seelischen. Dabei geht es um eine Aufgabenteilung. Eine Sorte der erlebbaren Zusammenhänge hat konkrete Entwicklungen, zum Thema. Einkaufengehen, Fernsehschauen, Studieren Erwachsen werden. Alle diese Zusammenhänge beschreiben inhaltlich Entwicklungen. Dagegen setzten sich Zusammenhänge ab, die in diesen Entwicklungen sich wie ein Navigationssystem verhalten. Sie helfen, Entwicklungsetappen zu bewerten: geht es gut, oder muss was geändert werden. Alle Freud- und Leiderfahrungen helfen der Entwicklung, sich zu orientieren, damit ihre Sache gelingen kann. Nehmen wir ein Beispiel: Das Ereignis eines Aufbruchs, kann z.B. als Erleichterung erlebt werden („endlich geht es los“, „ich kann wieder tief durchatmen“). Hier haben wir es mit einer Erfahrung zu tun, die dem Aufbruch fördernd entgegenkommt Wenn wir dagegen mit dem Aufbruch z.B. ein starkes Bangesein verbinden, hätte das sicherlich eine andere Wirkung auf die Steuerung der weiteren Schritte innerhalb der betreffenden Enwicklungsangelegenheit.

Es gehört offenbar zum Wesen eines kultivierten Seelenlebens, dass Entwicklungen in ihrem Mittelpunkt stehen, wie Themen, die eine Kontinuität und Einheit herstellen. die Freud-/Leiderfahrungen stellen sich in den Dienst dieser Entwicklungszusammenhänge. Das bedeutet: Wir finden eine vorgegebene Aufgabenteilung zwischen zwei Formationen des Seelischen, vor. In dieser Aufgabenteilung sehen wir also eine zweite Art von Unterschiedenheit im Seelischen.

Es gibt aber noch eine dritte Art von Widerspruch, die von Bedeutung ist. Diese setzt die beiden vorgenannten Arten schon voraus und bringt sich auf einer höheren Ebene zum Ausdruck: Die in den Dienst der Entwicklungen gestellten Freud-/Leiderfahrungen können versuchen, ihrem Auftrag zu widersprechen. Damit sind wir bei einem neuen, potentiellen Gegensatz: Das Seelenleben kann sich wie in einer Revolte darin einrichten, das vorgegebene Dienstverhältnis rumzugedrehn: Das Seelische versucht dann umgekehrt die Entwicklungen in den Dienst einer Freud- und Leiderfahrung zu stellen. Es geht ihm dann z.B. darum, ein ganz bestimmtes Leid um jeden Preis zu vermeiden oder darum ein bestimmtes Wohlgefühl um jeden Preis sicher zu stellen.

Für die Zweiäugleinmethode gehen Widersprüche also nicht allein (a) daraus hervor, dass Bedeutungen sich immer schon auf andere Bedeutungen beziehen und sich dabei bewerten bzw. interpretieren. Widersprüche sind vielmehr auch (b) Folge einer vorgegebenen Kultivierungsform, welche die erlebbaren Zusammenhänge in zwei Richtungen formiert (Freud-Leiderfahrung und Entwicklungen). Und aus diesem Grund ist dem Seelischen auch noch die Möglichkeit gegeben, (c) sich in einer dritten Widerspruchsform zu zeigen, indem es sich nämlich in Opposition zu dieser kulturellen Vorgabe zu organisieren versucht, gleichsam wie in einer Revolte. Und im schlimmsten Falle geschieht das auch dauerhaft bis es zu einer Überforderung der Verhältnisse kommt.

(2) Beeinträchtigungen
Beeinträchtigungen im Seelischen haben aus diesem Grunde zwei verschiedene Erscheinungsformen. Die erste bezieht sich darauf, dass die erlebbaren Zusammenhänge in einem bestimmten Erfahrungsbereich in ihrem Austausch behindert sind. Das ist der Fall, wenn die Kehrseiten-Erfahrung für einen bestimmten Typus von Entwicklungen fehlt. Das Seelische ist in diesem Falle nicht in der Lage, in seinen Freud- Leid-Erfahrungen auf Gefahren hinzuweisen, oder durch positive Wahrnehmungen etwas zum Fortune einer Entwicklung beizutragen. Deshalb werden bestimmte Entwicklungen völlig unerwartet von extremen Wendungen getroffen. Die Erfahrungen und Reaktionen können merkwürdig, und völlig unpassend sein oder uns als Übersprungshandlungen begegnen. Sie können sehr irreal und auch sehr unsozial sein. „Störungen“ der zweiten Art dagegen sind, wie schon beschrieben, von anderer Natur und Beschaffenheit und treten auch weit häufiger auf. Sie haben etwas mit den alltäglichen Neurotizismen des kultivierten Menschen zu tun. In diesen „Störungen“ geht es um Probleme, die sich aus der dauerhaften Verdrehung einer bestimmen Indienstnahme ergeben. Kurz: Die Entwicklungen des Seelischen werden alle dem Diktat einer universalen Glückssuche oder Leidvermeidung unterworfen. Freud- Leiderfahrung stehen nicht mehr im Dienst der Entwicklungen sondern haben das Verhältnis umgedreht.

(3) Therapie
Die Therapie einer solchen Psychologie hat deshalb auch zwei verschiedene, auf die unterschiedliche Problemlage passende Formen entwickelt. Im erst genannten Fall geht es um eine Nachentwicklung des Seelischen und, wenn das nicht mehr geht um die Entwicklung von „Prothesen“. Die andere Art von Problemen, braucht dagegen eine Therapie, in der es darum geht, die Entwicklungen, in denen der Klient sich befindet von dem Diktat einer Obsession oder von dem Versuch einer zwanghaften Leidvermeidung zu befreien. Die Therapie dieses Typs zielt darauf, Veränderungsspielräume wieder herzustellen, und das heißt, sie versucht die Möglichkeiten, die in den Lebensgeschichten und gelebten Bildern eines Menschen enthalten sind wieder ins Leben zurück zu bringen. Die Flugangst, die wir eben als Beispiel genommen haben, könnte sich so auch als Verkleidung für eine andere Begrenzung erweisen. Vielleicht geht es um eine Schutz herstellende Grenze, mit welcher der Betroffene zwar auffällig leidend im Hader liegt, deren Sinn aber darin besteht, ihn davor zu bewahren, einer bestimmten Versuchung nachzugeben, dem „Fliegen im übertragenen Sinne“ – und gleichzeitig stellt diese Methode sicher, ständig mit der potentiell gegebenen Erfüllung des tatsächlichen Fliege-Wunsches in Kontakt zu sein – ohne die Gefahren des verkleideten, aber eigentlich gemeinten Fliegens mit ins Erleben zu nehmen.

Ein neues Bild von Wissenschaft

Eine Psychologie der hier skizzierten Art kann sich nur entwickeln, wenn es ihr gelingt, ein eigenes Verstehen von Wissenschaft aufzubauen und sich mit den anderen Wissenschaften darüber ins Verhältnis zu setzen. Die inhaltlich und methodisch neuen Erfahrungen mit dem Seelischen, so wie sie sich hier am Beispiel der entstehenden Psychoanalyse in den Blick gebracht haben, müssen auf diese Weise gewürdigt und ernst genommen werden. Ein erster Schritt auf diesem Weg könnte darin bestehen, auf die Haltung zu schauen: Wie sollte eine wissenschaftlich-psychologische Haltung aussehen, die den neuen Erfahrungen gerecht wird und in welchem Verhältnis steht diese dann zu einer Haltung in der Wissenschaft allgemein? Ich werde versuchen, eine Antwort darauf zu geben: In der Wissenschaft vom Seelischen geht es stets darum, Vertrautes aufzubrechen und Unbekanntes darin sichtbar bzw. zugänglich zu machen. Das heißt: bekannte Dinge, an denen wir eigentlich nichts Überraschendes wahrzunehmen vermögen, zeigen auf einmal etwas Unerwartetes, Neues, wenn wir psychologisch-methodisch (bzw. bildanalytisch) mit ihnen umgehen. Sie verwundern uns und versetzen uns in ein Staunen. Jetzt können wir uns fragen, ob die anderen Wissenschaften nicht auf gleiche Weise an die Dinge herangehen. Geht es ihnen nicht ebenfalls darum, Selbstverständlichkeiten aufzubrechen und Neues im Vertrauten aufzuzeigen? Die etwas rhetorisch anmutende Frage scheint berechtigt. Wenn wir aber nach einer entsprechenden Haltung in den „klassischen“ Wissenschaften suchen, treffen wir tatsächlich eher auf das Entgegengesetzte: Das Vorgehen in den Wissenschaften allgemein ist vielmehr davon bestimmt, das Unbekannte wie etwas Störendes aufzugreifen um es schlussendlich – und in vielen Fällen mit sehr viel Aufwand – auf das uns schon Bekannte zurückzuführen.

Aus Sicht der Psychologie liegt der Dreh- und Angelpunkt einer Wissenschaft allgemein darin, das Vertraute/Allzuvertraute in etwas Neues und Überraschendes zu überführen. Das Staunen ist also der Ort, wo wir hin wollen, und nicht eine Sache, die es primär zu überwinden gilt. Einstein hat das wohl ähnlich gesehen und auf seine ihm eigene Art – welche die Wissenschaft immer wieder gern einmal auf den Arm nimmt – formuliert: „der Fortgang der wissenschaftlichen Entwicklung ist im Endeffekt eine ständige Flucht vor dem Staunen“.

Die Psychologie setzt in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft eigene Akzente. Dabei geht sie auf verschiedene Fragen ein: Was ist mit Empirie gemeint, allgemein und für die Psychologie im Besonderen? Muss nicht jede Wissenschaft ihre Ergebnisse an der Realität überprüfen, aus der dieselben entnommen sind (das Seelische also an der Realität des Seelischen)? Was ist allgemein der „Gegenstand“ einer Wissenschaft, sind damit die „Objekte“ gemeint, die wir bearbeiten oder sind es die Methoden, mit denen wir auf die Dinge losgehen, oder gibt es noch eine andere Auffassung hierzu? Gibt es methodisch gesehen eine universale Wissenschaft, die sich in den verschiedenen Bereichen lediglich ausdifferenziert, oder ist eine andere Ordnung angemessener? Die notwendigen Fragen können hier nicht alle gestellt und ihre Antworten nicht alle gegeben werden. Eine mögliche Positionsbestimmung von einer zukünftigen Psychologie möchte ich in knappen Zügen hier dennoch geben.

Methodenentwicklung und Modellbildung

Die Wissenschaft der Zukunft tritt nicht mehr mit dem Anspruch einer generalisierenden Methode auf, die alle Objekte mit den gleichen Prozeduren „behandeln“ will. Sie tritt uns vielmehr in zwei verschiedenen Formen entgegen. Da ist zunächst die Form oder der Typus einer
(1) methodenentwickelnden Wissenschaft. Diese Form von Wissenschaft übersetzt alles, was ihr begegnet, auf eine ihr eigene universale Perspektive und entwickelt dabei Methoden, die auf die Natur der so herausgehobenen Phänomene und Zusammenhänge ganz genau passen. Den zweiten Typus von Wissenschaft können wir modellbildend nennen. Die (2) modellbildende Art wissenschaftlichen Arbeitens definiert sich über einen „äußerlich“ gut abgrenzbaren Objektbereich. Sie lebt nicht von einer universalen Perspektive, welche sich in ihren Übersetzungen die ganze Wirklichkeit zum Thema macht, vielmehr sucht sie in einem betont erlebensunabhängigen Vorgehen, Modelle für eine Realtität zu entwickeln, die einer „objektiven“ Wirklichkeit so nahe wie möglich kommen sollen. Die Unterscheidung in subjektiv und objektiv spielt hierbei eine große Rolle. Auch wenn das Wort „modellbildend“ atmosphärisch eher etwas Freies und Bewegliches verspricht, es herrscht hier eher ein etwas zwanghafter Ernst vor: Gesucht wird nämlich – offen oder unterschwellig – nach der wahren Ordnung der Dinge. Und im Hintergrund wirkt das Versprechen: Wir können dieser wahren Ordnung Schritt für Schritt näher kommen, wenn wir unsere Modelle nur immer wieder verbessern und dabei alles „Subjektive“ beiseite lassen.

Für die „methodenentwickelnde“ Wissenschaft gilt dagegen eine andere Idee. Sie versteht sich als eine methodische Veranstaltung, die dazu da ist, die Methoden in den Dingen selbst zu erfassen und zu verstehen.
Methoden treffen auf Methoden und erzeugen das hochkomplexe Problem einer Rückbezüglichkeit. Und damit sind wir wieder bei der Paradoxie und ihren unauflösbaren Widersprüchen. Das Auftrennen in eine „objektive“ Perspektive, die uns wie von außen auf die Dinge schauen lässt, und in eine subjektive, die uns gleichsam mit den Dingen verklebt, lässt sich von dieser Idee her nicht aufrechterhalten. In diesem Typus von Wissenschaft, den ich als „methodenentwickelnd“ bezeichne, tritt vielmehr das Problem der Rückbezüglichkeit in den Mittelpunkt. Und das spricht, allen Vereinfachungswünschen zum Trotz: Es gibt keinen keinen archimedischen Punkt, nichts Objektivierendes irgendwo in einem „Außen“, nur Umzentrierungen und Ähnliches innerhalb der Zusammenhänge selbst. Daher gibt es auch keine objektiven und wahren Herangehensweisen, mit denen wir in immer besser werdenden Modellen einer wahren Wirklichkeit näher kommen können. Methoden „behandeln“ Methoden: Herangehensweisen sind Methoden wie auch die Gegenstände der Wissenschaft Methoden sind. Auf die Wissenschaft vom Seelischen bezogen heißt das: „Psyche“ ist das bildhafte oder gleichnishafte sich Verstehen einer Wirklichkeit. Sogar Dinge haben ein „Bildverstehen“, das heißt: sie verstehen sich nach dem einen oder/und anderen Bild bzw. Gleichnis.

Ebenbürtige Wissenschaften

Die Wissenschaft hat die Aufgabe, in diesem Gewirr von Zusammenhängen ein Zusammenspiel zu entwickeln, was die jeweilige Sache zum Sprechen bringt.
Im Fall der Psychologie geht es um die
(a) erlebbaren Zusammenhänge, in der Physik um die
(b) räumlich-zeitlichen und in der Mathematik um die
(c) formalisierenden Zusammenhänge. Die Gesetze, die wir dabei entdecken können, beschreiben wie z.B. (a) die seelischen Phänomene noch einmal unter sich selbst zusammenhängen (Beispiel: Gestaltschließung, Verkehrung), genauso wie die (b) raum-zeitlichen Phänomene in der der Physik (Beispiel: Energieerhaltung, Entropie) und die (c) formalisierenden Zusammenhänge in der Mathematik (Beispiel: Gruppenbildung, Kompaktifizierung von Unendlichkeiten).
Zu meinem Bild von einer zukünftigen Psychologie gehört es, dass diese zusammen mit den ebenfalls methodenentwickelnden Wissenschaften Mathematik und Physik wie ebenbürtig nebeneinander existieren und nach dem Beispiel des Märchens sich auch gegenseitig helfen lassen. Nehmen wir hierfür die Analogie des Schlussbildes im Märchen. Die beiden Geschwister des Zweiäugleins haben nach einer langen Zeit der Entwicklung, alles Übergriffige in ihrem Verhältnis zum Schwesterchen fallen gelassen und Zweiäuglein, hat inzwischen ein eigenes Zuhause gefunden. Es muss jetzt nicht mehr vermittels einer magisch bleibenden Eigenwelt (Tischleindeck-Dich-Zauber) oder eines Unterkriechens (Leben unter dem umgekippten Fass) eine ihr versagt bleibende Zugehörigkeit kompensieren, die ohnehin – und das stellt sich nicht selten erst gegen Ende einer Entwicklung heraus – einen zu hohen Preis gefordert hätte.

Psychologie und Metadiskussion

Zum Schluss möchte ich noch einmal auf den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurückkommen. Wir gingen von den unauflösbaren Widersprüchen in den Paradoxien aus und davon, dass die Wissenschaftsgemeinschaft in weiten Teilen etwas gegen die Logik des Paradoxen in ihrem Bereich einzuwenden hat. Durch unseren Blick darauf, wie es der Paradoxie gelungen ist, zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, ihren Fuß in das wissenschaftliche Denken und Arbeiten hineinzubekommen, sind wir zunächst auf die Psychoanalyse und Tiefenpsychologie gestoßen, welche im Bezug auf diese Problematik sehr früh schon den Mut hatte, einen eigenen Weg zu gehen.
In einem nächsten Schritt hatte ich versucht diese Entwicklung weiterzudenken. In einer Vision von einer zukünftigen Psychologie und Wissenschaft ließ sich ein interessantes Bild entwerfen, ein Bild von einer methodisch eigenständigen Psychologie, die ihren Phänomenbereich in den erlebbaren Zusammenhängen hat. Sie hat damit eine Wirklichkeit zum Gegenstand, die nicht an irgendeiner Stelle aufhört wie die Geographie zum Beispiel mit ihren prinzipiell inventarisierbaren Objekten (und Prozessen). Sie bezieht vielmehr alles ein, was der Perspektive des Erlebbaren zugänglich ist. Ihre Phänomene können sich mit denen aus anderen Wissenschaften überschneiden. So kann eine Allee mit Bäumen zugleich auch als ein mathematisches Phänomen verstanden werden. Dann sehen wir anstelle der Allee, eine gleichabständige Anordnung ähnlicher Objekte, die in zwei Reihen parallel nebeneinander herlaufen. Aus der Perspektive einer Psychologie hätten wir es vielleicht mit einem Zusammenhang zu tun, der in einem vielfachen Zusammenwirken – z.B. über das einfallende Sonnenlicht und über eine herbstliche Stimmung im Ganzen – dem potentiellen Spaziergänger eine Art von Begleitung und Geborgenheit anbietet. Für den formalisierender Blick auf die Alle ergäb sich ein Bild mit ganz anderen Verbindungen. So fände hier z.B. die Krümmung, welche die Reihe der Bäume in ihrem Verlauf beschreibt eine besondere Beachtung oder ihre gleichbleibende Steigung mit dem Wert „0″ in der Höhendimension. Die beiden „Welten“, die wir jeweils beschreiben überschneiden sich irgendwie und „tun sich“ dabei dennoch „nichts“. Veränderungen, die wir aus der einen Beschreibungswelt heraus unternehmen, sind mit irgendwelchen Veränderungen in der anders beschriebenen Welt verbunden, aber sie sind es nicht auf eine verstehbare Weise. Genauso ist es auch, wenn sich in ein und demselben Ereignis, die Phänomene einer hirnpyhsiologischen Beschreibung mit den Phänomenen einer Erlebensbeschreibung überschneiden. Auch in diesem Falle scheint es eine gewisse Verschränkung der Geschehnisse über die perspektivischen Grenzen hinaus zu geben, einen „inneren“ Zusammenhang zwischen den Welten (also einen verstehbaren Zusammenhang „ohne Sprung“) aber nicht.

Das Paradoxe und die Überschneidungen

Wir müssen uns nun fragen, wie wir mit solchen Überschneidungen und den darin aufbrechenden Differenzen umgehen wollen. Sind die Widersprüchlichkeiten welche durch die unterschiedlichen Beschreibungen hervorgebracht werden, auflösbar? Die Erfahrungen aus der Psychologie laden mit dem Stichwort der Paradoxie dazu ein, von einer Unauflösbarkeit auszugehen. Zusammenhänge aus der einen Wissenschaft kommen prinzipiell nicht zusammen mit denen einer anderen Wissenschaft, solange wir es hierbei mit zwei eigenständigen Perspektiven zu tun haben.

Die Idee, dass eine Unauflösbarkeit von Gegensätzen vielleicht prinzipiell hingenommen werden muss, kann dem Gegeneinander von wissenschaftlichen Sichtweisen einen neuen Spielraum geben. Die Wissenschaftsgemeinschaft kann die Herausforderung, die in dem Bergriff des Paradoxen liegt, nutzen, ein grenzüberschreitendes Gespräch in Gang zu bringen. Das Prinzip der Paradoxie beschreibt die Problemlage wissenschaftlicher Welten, die sich in ihren Beschreibungen überschneiden und macht ein streitbares Angebot, wie die Widersprüche dabei eventuell zu behandeln sind. Über das Paradoxe kommt man miteinander ins Gespräch. Außerdem, hilft die Thematik innerwissenschaftlich, das Denken zuzuspitzen, was in spezifischen Umbruchssituationen von besonderem Nutzen sein kann (Kuhn, Paradigmenwechsel). Das Thema der Paradoxie bringt die verschiedensten Probleme und Bedürfnisse einer Wissenschaft auf den Tisch (z.B: Austausch, Zuspitzung im Eigenem, Übersetzung zwischen den Wissenschaften).
Das Interesse an der Paradoxie geht wahrscheinlich auf eine neue Art des Denken zurück, wie ich sie im Beispiel des Märchens mit der Zweiäugleinmethode beschrieben habe. Das neue Denken hatte sich in vielen Anwendungen (z.B.: Psychotherapie, Werbung, Film) schnell als sehr erfolgreich erwiesen. Die Psychoanalyse mit ihren Beobachtungen zur merkwürdigen Logik des Unbewussten war ein wirkungsvoller Anfang in dieser Entwicklung.

Dass eine bestimmte Erfahrung aus der Wissenschaft ansteckend auf alle möglichen Bereiche einer wissenschaftsinteressierten Welt wirken kann, hat sich schon einmal gezeigt. Im ausgehenden neuzehnten Jahrhundert ist die Methode des wissenschaftlichen Experiments zu einer außerordentlichen Erfolgsgeschichte geworden. In alle Bereiche der Wissenschaft hinein wollte man das erfolgreiche Vorgehen übertragen. Das brachte einen großen Schwung in die Wissenschaften und eine Ermutigung zu allerhand Neugründungen von Wissenschaften – hierzu gehören auch die Vorform einer wissenschaftlichen Psychologie die hauptsächlich sich in Wahrnehmungsexperimenten versuchte (Experimentelle Psychologie, Wilhelm Wundt).

Einladung zum Gespräch

Heute ist es das Thema der Paradoxie, was eine ähnlich große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Das Paradoxe in der Wissenschaft scheint mir für eine Metadiskussion sehr nützlich zu sein. Das Thema lädt dazu ein, verschiedene Betrachtungsweisen und ihre Konsequenzen in einem Nebeneinander gelten zu lassen und sich frei zu machen von dem Druck einer generalisierenden Methode. Das Thema richtet die Aufmerksamkeit ja gerade auf das Problem von Gegensätzen und auf die Möglichkeit einer Unaufhebbarkeit derselben. Die Gefahr von Abkürzungen und gewaltsamen Synthesen zugunsten irgendwelcher höherer Wichtigkeiten wird in einem solchen Kontext schneller gesehen. Das schützt und erleichtert eine wirkliche Begegnung von Ideen.
Die Methode des naturwissenschaftlichen Experiments hatte damals zu einem rasanten Austausch zwischen den Wissenschaften geführt: In allen Wissenschaftsbereichen hatte man sich die Methode des Experiments als Vorbild genommen. Wie wir heute wissen, ist man dabei manchmal auch ein bisschen zu weit gegangen. Nicht überall machte es nämlich den gleichen Sinn, das Experiment, als methodisches Vorbild zu nehmen. In den Kulturwissenschaften passte eine Übersetzung der Erfahrungen aus dem Naturwissenschaftlichen Bereich nicht immer.
Etwas Vergleichbares könnte auch passieren, wenn wir das Denken in Paradoxien versuchen sollten, auf alle Wissenschaften zu übertragen. Die diesbezüglichen Erfahrungen, so wie sie aus der Psychologie kommen, lassen sich höchstwahrscheinlich nicht 1:1 auf die Zusammehänge in den anderen Wissenschaft übertragen. Besonders interessant wird es sein, in der nächsten Zeit zu verfolgen, wie die Physik im Bereich der quantenphysikalischen Phänomene die paradoxe Logik für sich interpretieren und möglicherweise auch methodisch integrieren wird. Zur Zeit nimmt in diesem Bereich der Naturwissenschaft die Thematik des Paradoxen einen sehr großen, wenn auch noch nicht so recht „geklärten“ Raum ein.

Psychodoxe Natur und eigener Raum

Wir können zusammenfassend sagen, dass die Analogien aus der klassischen Naturwissenschaft weitgehend versagen, wenn wir die seelischen Phänomene methodisch erfassen und verstehen wollen (die Vorbildfunktion der Naturwissenschaft funktioniert nicht). Wir haben es im Bereich der erlebbaren Zusammenhänge wirklich mit einer eigenen „Natur“ zu tun und diese lässt sich auch nur mit ihren „eigenen Methoden“ erfassen. Die Paradoxie und die Logik der unauflösbaren Wiedersprüche, spielt dabei eine große Rolle. Für das Selbstverständnis einer zukünftigen Psychologie, würde ich vorschlagen, das Denken in Paradoxien durch den Begriff des Psychodoxen zu erweitern. Immer, wenn sich die Paradoxien auf den psychischen Bereich beziehen, sollten wir die entsprechenden Zusammenhänge als psychodox qualifizieren. Der Begriff des Paradoxen kann somit freigehalten werden für den Austausch der Wissenschaften untereinander. Einer allzuschnellen Gleichsetzung von Zusammenhängen, die möglicherweise nur in formaler Hinsicht besteht, wird damit etwas entgegensgesetzt. Ich könnte mir vorstellen, dass wir innerhalb der Psychologie zukünftig mehr von einer „psychodoxen“ Natur sprechen, einer „Natur“, welche das Werden im Seelischen grundlegend motiviert und antreibt.

Die umfangreiche Diskussion über das Für und Wider einer Logik des Paradoxen in den Methoden einer Wissenschaft ganz allgemein, scheint mir ein Ausdruck dafür zu sein, dass die Natur des Seelischen ihren eigenen Raum in der Wissenschaft noch nicht gefunden hat. Das spannende Thema geht hier gleichsam fremd. Dass die Psychologie etwas zu bieten hat, ist wohl ohne Frage und das kommt auch in unserer Wirklichkeit so an. Wir dürfen unseren Blick dabei nur nicht zu sehr auf das „Inventarisierbare“, richten, also auf irgendwelche Psycho-Sensationen (auch wenn diese immer sehr stark interessieren): Wir können vielmehr „methodisch“ etwas hinzulernen durch diese neue Wissenschaft, auch wenn das noch nicht so in der Diskussion ist. Eine Ahnung davon drückt sich – nach meiner Auffassung – in den vielfältigen Metadiskussionen aus, die in den verschiedenen Wissenschaften geführt werden. Ich sehe darin einen guten und spannenden Anfang. Für die Psychologie selbst aber bedeutet das noch nicht so viel: Sie muss nämlich diesen eigenen Raum, so wie er hier entworfen ist, erst noch „breit“ und für alle „begehbar“ herstellen. Es geht um einen „Raum“, der das „methodisch Eigene“ in die Mitte stellt, und es zugleich mit der Gemeinschaft der Wissenschaften teilbar macht.

Das Märchen zum Nachlesen

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