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Kurzdarstellung in umgekehrter Reihenfolge
Als erstes gibt es einen Raum zu beschreiben, in welchem so gut wie alles unter die Erwartung eines sozialen und eigenverantwortlichen seelischen Handelns gestellt ist, auch wenn eine solche Erwartung in der Realität gar nicht bzw. nur ausschnittsweise erfüllt werden kann. Dennoch, diese Erwartung bestimmt die Gesetzlichkeiten und die besonderen seelischen Verhältnisse in diesem Raum. Ein solcher Seelenraum eröffnet sich uns, wenn wir es früh ansetzen, irgendwo um den Eintritt in die Schulfähigkeit herum, oder später angesetzt mit Erlangung der sexuellen Reife bzw. mit der Erlangung der Geschäftsfähigkeit. Der nächste Raum, zeitlich also eine Stufe vorgelagert, erweist sich schwerpunktmäßig als dyadisch und nach dem Muster einer Zweipersonenpsychologie gestaltet. In diesem Raum geht es zu, als ob alles, was passiert, in letzter Konsequenz über eine zentrale Bezugsperson mit der Welt in Verbindung stehe und als ob diese Person oder „Institution“ hauptverantwortlich sei. Und wenn wir noch eine Stufe zurückgehen, also ganz an den Anfang, finden wir einen dritten Raum, einen Raum, der noch weitgehend unerforscht ist. In ihm geht es um die allerersten Anfänge des Seelischen. Wir können sagen, dass das psychische Leben im Mutterleib beginnt. Dort versucht es eine erste Form zu gewinnen. Und das geschieht, wie ich es nennen möchte, in Gestalt eines sich selbst genießenden Zusammenspiels. Wir können hier auch von einem Zusammenspiel nach dem Bild einer Synchronie sprechen, die sich wie eine spielerische Abstimmung zwischen den verschiedenen Lebensäußerungen immer wieder herzustellen versucht. Diese Abstimmung im Sinne eines sich selbst genießenden Zusammenspiels geschieht zwischen Lebensäußerungen, die nicht einfach auf zwei Zentren oder auf den Säugling und die Mutter festgelgt werden wollen. Unterscheidungen dieser Art haben hier noch keine so große Bedeutung, und die Wissenschaft hat hier noch einiges zu klären. Wie wir gleich sehen werden, kann die Frühgeborenforschung uns tatsächlich ein paar interessante Denkanstösse geben. Vorher möchte ich aber erst noch auf die Besonderheiten der späteren seelischen Entwicklungsräume eingehen:
Der auf Konfliktfähigkeit aufbauende Entwicklungsraum
Sigmund Freud hatte sich zunächst für das Seelische interessiert, welches wir in dem Raum des „erwachsenen“ Seelischen vorfinden. Es ging Freud um ein Seelisches, was sich mit viel Geschick in dem Kontext kultureller und sozialer Ansprüche zu bewegen weiß, obwohl es uns von seinen Antrieben und seinen ersten Beweggründen her, eine ganz andere, nämlich eine „einfache“ und archaische Seite zeigt. Was ihn wahrscheinlich neugierig gemacht hatte, war die Frage, wie man sich ein seelisches Funktionieren vorstellen kann, das sich in einem komplizierten Geflecht aus kulturell gewachsenen Erwartungen und anderen Herausforderungen zu verwirklichen weiß, obwohl es von Prozessen getragen ist, die ihren Ausgangspunkt offenbar in ganz einfachen Impulsen und Beweggründen haben.
Die besondere Idee S. Freuds war es, in den ganz normalen Leistungen des Seelischen eine Dramatik nach dem Gleichnis eines Kultivierungsprozesses zu sehen, auch wenn es sich dabei jeweils um ganz kleine und zeitlich überschaubare Geschehenseinheiten und alltägliche Dinge handelte. Die Richtung im Seelischen hieß für ihn: Vom Einfachen zum Komplizierten, so wie eine Kultur sich auch aus etwas zunächst archaisch Undifferenziertem zu etwas Höherem hin entwickelt und also ausdifferenziert. Er dachte sich das Seelische in diesem Sinne als angetrieben oder bewegt von ganz einfachen, ebenso überkonkret wie unspezifisch sich gebärdenden Impulsen und Motiven, die auf eine Reihe entgegenlaufender Ansprüche einer Realität treffen und sich irgendwie auf diese einlassen müssen, wenn sie zum Zuge kommen wollen. Vielleicht bedürfen sie der Kompromisse, Umformungen und ähnlicher Künste. So ungefähr dachte sich S. Freud das Funktionieren des Seelischen und im Falle des Nichtgelingens dementsprechend das „verunfallte“ oder „gestörte“ Seelenleben. Die psychischen Leistungen, so führte er mithilfe einer seiner Modellvorstellungen aus, werden daher organisiert durch eine Art von „seelischem Apparat“, der es versteht, die Aufgaben trotz der einfachen Antriebe, die das Geschehen bewegen, in die erforderliche Bearbeitung zu bringen und das auch in dem hierfür notwendigen Nacheinander. Freud wollte damit festhalten, dass es verschiedenartiger Prozeduren und eines bestimmten Ablaufs bedarf, um unser Handeln erfolgreich auszuführen. Das Bild von dem seelischen Apparat ist nur eine von den verschiedenen Metaphern, mit denen er versucht hat, das zusammenhängende Ganze des Seelischen in ein Bild zu bringen. Wir können heute, nach rund 100 Jahren tiefenpsychologischen Weiterdenkens und mit Blick auf ein paar neue Erkenntnisse sprachbildlich das auch noch etwas anders fassen:
Das Seelische, das in dem Raum zu Hause ist, in welchem eine soziale Verantwortlichkeit, also etwas „Reifes“ oder „Erwachsenes“ erwartet wird, hat sich eine durchgehende Ambivalenzfähigkeit erworben. Der Psychoanalytiker spricht hier von der Fähigkeit zur Triangulierung oder von der Fähigkeit, die Verhältnisse zur Welt, auch im übertragenen Sinne, nach dem Muster einer Dreiecksbeziehung zu gestalten, die aus der persönlichen Bewältigung des Ödipuskonfliktes hervorgegangen ist. Ich möchte diesen Gedanken für dieses Bild der drei Entwicklungsräume etwas allgemeiner fassen und spreche daher lieber von einer Konflikt- oder Ambivalenzfähigkeit. Diese Ambivalenzfähigkeit ermöglicht dem Seelischen das gefühlsmäßige Vorwegnehmen von Folgen, die das Ausleben einfacher Antriebe mit sich bringen würde. Und so wird es uns möglich, im Sinne der erwarteten prinzipiellen Eigenverantwortlichkeit ständig mit den möglichen Folgen unseres Tuns und Wünschens in einem Kontakt zu sein. Natürlich ist das nur ein ahnungsvoller, atmosphärischer Kontakt. Es ist so, als würden wir zu allem, was uns leidenschaftlich bewegt, noch so eine Art von „zweitem Blick“ auf die Sache haben. Aus diesem gefühlsmäßigen Vorwegnehmen von Folgen, zusammen mit dem Gefühl, was jeweils die Hauptrichtung bestimmt, ergibt sich so etwas wie ein „räumlich“ erweitertes Fühlen. Das funktioniert ähnlich wie die Erweiterung eines zweidimensonalen Sehens durch die Tiefendimension, denn auch beim Sehen geht es um die Hinzunahme eines zweiten, in diesem Falle räumlich versetzten und wörtlich verstandenen Bildes, was mit dem Hauptbild nicht in Konkurrenz tritt, sondern ihm eine räumliche Tiefe gibt.
Das Seelische in diesem Raum ist also ständig in der Lage, Einbrüche, Enttäuschungen, Störungen und Überraschungen aller Art als Kehrseiten seiner eigenen Entwicklungen zu“ sehen“. Hierzu muss natürlich ein ganzes Arsenal von grundlegenden Kehrseitenerfahrungen bereits gemacht worden sein und eine ausreichende Erfahrung mit der Übertragung derselben auf verwandte Situationen. Wenn diese Erfahrungen fehlen, bekommt das Seelische größere Probleme. Es ist dann auf die Absicherungen zurückgeworfen, die eigentlich in einem früheren seelischen Raum üblich und angemessen sind.