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Bildanalytik als radikale Umkehr des Blickes
(weg vom System hin zu den Dingen)
Das „Hin zu den Dingen“ und das Schauen von dem Ding aus auf das Ganze, das ist eine Forderung die von der neuen Wissenschaft der erlebbaren Zusammenhänge besonders deutlich vertreten wird. Das liegt daran, dass die bildhaften Zusammenhänge jeweils die Potenz in sich tragen, Gleichnis zu werden für die ganze Wirklichkeit und dass sie selber jeweils eine mögliche Perspektive auf das Ganze sind.
Jeder bildhafte, und das meint „jeder erlebbare“ Zusammenhang trägt die Potenz in sich, selbst zum Zentrum eines Verstehens zu werden und damit zu einer Interpretation der Dinge, eigentlich aller Dinge die sonst noch bestehen. Nehmen wir z.B. eine Tasse (sagen wir, eine Tasse, als Gebrauchsgegenstand verstanden), dann können wir in ihr ein Gleichnis sehen, was sich auch auf alles mögliche Andere wie eine Deutung desselben beziehen lässt. Das gelingt, weil auch die seelische Natur einer Tasse ein Bildverstehen hat, sich also nach einem Gleichnis oder Bild versteht.
Nehmen wir das Beispiel der Tasse, dann haben wir es mit einem „kleinen, raumschaffenden Aufschub zu tun, der sich uns innerhalb eines Übergangs, der auf Zufuhr ausgerichtet ist, anbietet. Gehen wir mit diesem Bild nun an die Wirklichkeit im Ganzen heran, dann können wir von ihm aus auch etwas über diesen Aufsatz (oder bildanalytischen Appetizer) sagen: Er bietet die Möglichkeit, in einem Prozess, in welchem es darum geht sich eine Vorstellung vom Denken der Bildanalytischen Psychologie zu machen, einen kleinen raumschaffenden Aufschub zu erhalten, der es erlaubt, erst einmal vorschmecken zu können, um sich in einem nachfolgenden, weiteren Zugreifen dann mit der interessierenden Materie auseinanderzusetzen. Wir haben also die Möglichkeit, es mit dem Aufsatz so zu halten wie es der Gebrauchsgegenstand Tasse mit dem Menschen und einem Getränk zu halten versteht. Denken wir nur an die Analogien zu der Möglichkeit, die eine Tasse bietet: ein Getränk kann auf eine annehmliche Weise zu sich genommen werden und das heißt mit einer bestimmten Kultur, nicht überstürzt sondern portioniert und mit einem eventuellen Hinzubringen bestimmter, dem individuellen Geschmack entsprechender Zutaten (Zucker, Milch o.ä.).
Das heißt: In einer derart konsequent verstandenen Wissenschaft der Psychologie oder Bildanalytik, werden die Dinge selbst zur Lehre. Die Tasse z.B. sagt uns von ihrer eigenen Natur ausgehend etwas über die Bedeutung dieses Appetizers aus, der von ihnen grade gelesen wird. Das erinnert an einen Satz von Goethe, in dem es heißt: „Die Phänomene selbst sind die Lehre“. Geht es bei Goethe aber wirklich darum? Schaut man sich die zugrunde liegende originale Aussage von Goethe an, bemerkt man gleich, dass hier die allgegenwärtige EINE Ordnung der Natur gemeint ist mit ihren Grundgesetzen, die sich nach Goethes Denken, überall zum Erscheinen bringt – und so auch an dem Ort des uns blau erscheinenden Himmels von dem Goethe in seinem Beispiel spricht: „Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“ Dieser letzte Teil des Satzes „Sie selbst sind die Lehre“ will eine Psychologie, welche die erlebbaren Zusammenhänge zum Gegenstand hat, nun wirklich ernst nehmen. Und das bedeutet: Die Dinge, wenn wir sie als Bilder und Gleichnisse verstehen, sind nicht nur Ausdruck VON einer Ordnung (Goethe und der Pantheismus) sondern auch Formel FÜR eine Ordnung und zwar FÜR eine je eigene Welt, die sich übers Ganze erstreckt wie ein Rahmen, welcher sich genau aus dem vorliegenden „Ding“ selbst herleitet (Tassenbeispiel s.o.).
Dieses Denken finden wir in Nietzsches Formel vom „Wille zur Macht“ wieder, mit der er sagen will, dass alle Zusammenhänge Bild fürs Ganze werden wollen, dass eben alles den „Willen“ oder das Streben dazu hat. Nietzsche bringt diesen Gedanken in ein drastisches Bild, wenn er sagt: Gott sei tot, denn dieser habe sich totgelacht, weil ein anderen Gott aufgestanden sei und behauptet habe, dass er der EINE und Einzige sei.
Weniger ist oft mehr – auf, dass es uns gelinge!
Die Leidenschaft, „hin zu den Dingen“ lebt besonders in der Wissenschaft (und Methode) von den erlebbaren Zusammenhängen wieder auf. Sie fordert von uns die Bereitschaft, einem bestimmten Sicherheitsbedürfnis („exakte“ Wissenschaften) entgegenzutreten, mit neuen Konzepten und einem mutigen „weniger ist mehr“. Dies wirklich umzusetzen ist nicht leicht. Und vielleicht ist mir der vorliegende Text, der ja eigentlich nur eine kleine bildanalytische Anregung sein sollte, aus diesem Grunde etwas in die Länge geraten. 😉
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Inzwischen ist dieser Appetizer als Artikel mit dem Untertitel – Werbung für eine Wissenschaft von den erlebbaren Zusammenhängen – auch im folgendem Netz-Medium erschienen:
Kuno – Kulturnotizen zu Kunst Musik und Poesie – (Edition Das Labor, Verlag der Artisten)