Strukturelle Bedeutung von Therapieabschlüssen
(Fachzeitschrift Entwicklungstherapie, Heft 4 / 2012)Beschreibungen über das Ende einer Psychotherapie finden wir eher selten in der psychologischen Literatur, Beschreibungen über die Höhepunkte und die spektakulären Wendungen einer Therapie dagegen häufiger. Es kann so der Eindruck entstehen, dass der Abschluss einer Psychotherapie, was seine besondere Gestalt und Ausformung betrifft, nur von einer formalen Bedeutung für das gemeinsame Werk und im engeren auch für den Therapeuten ist. Eine Gegenposition hierzu lautet, dass das Ende einer Psychotherapie gerade von einer besonderen Bedeutung ist und strukturell gesehen eher „mitten" ins Geschehen hineingehört. Diese Position bildet den Ansatzpunkt für meine Überlegungen, die ich in diesem Beitrag ausführen möchte. Sieht man sich das psychotherapeutische Geschehen unter einer allgemeinen strukturellen Perspektive an, lässt sich bereits ein erstes Verständnis zur Frage der besonderen Bedeutung von Abschlüssen entwickeln. Daher beziehe ich mich zunächst auf eine Veröffentlichung zum Thema Struktur und Funktionieren von Psychotherapie (Mikus, 2004). Danach gehe ich auf die Perspektive einer bildanalytischen Methode ein, weil diese noch einen besonderen Blick auf das Problem der Therapieabschlüsse möglich macht. Strukturmodell als Grundlage Eine Psychotherapie gibt dem Klienten die Gelegenheit, seine gelebten Methoden und die tragenden Muster seines Erlebens und Verhaltens auf die Bühne eines mit dem Therapeuten geteilten „psychotherapeutischen Geschehens" zu bringen. Auf dieser Bühne findet eine beziehungsstrukturelle Arbeit statt, die den Klienten und den Therapeuten wie in einer Zwischenwelt miteinander verbindet. Diese Welt hat eigene Regeln. Hier sind Prozesse möglich, die in der „normalen Welt" nicht funktionieren. In diesem geschützten Rahmen findet eine Übertragung der Muster aus dem Leben des Klienten statt. Diese entfalten hier aber nicht den gleichen Druck, der in der normalen Realität von ihnen ausgeht. Der Therapeut als Mitspielender erfüllt mit seiner besonderen Art des Eingehens nicht genau die Erwartungen, die das Muster an sein Gegenüber zu stellen scheint. Er geht vielmehr auf die meist ungesehenen Abwandlungsmöglichkeiten ein, die als Fortsetzung in dem zwingenden Muster ebenfalls mit enthalten sind. Auf diese Weise spielt der Therapeut, wenn auch indirekt, den zunächst für sich selbst gefundenen Spielraum an den Klienten zurück. Dadurch lockert sich für letzteren die Enge des eigenen Vorgehens und „Systems". Es können Überlegungen und Experimente freigesetzt werden, die in Richtung Neubewertung gehen und veränderte Verarbeitungs- und Eingehensformen einleiten. Veränderungsspielräume werden erfahren, die bis dahin nicht wahrgenommen werden konnten. In einer Therapie wird eine solche, zunächst einmalige Erfahrung, im Weiteren durch ein bestimmtes Maß an Wiederholung vertieft. Eine ergänzende Form der Absicherung erfolgt aber vor allen Dingen durch die Verdichtung des Neuerfahrenen in einem schlüsselhaften Erlebnis oder Gleichnis (z.B. über ein Märchenbild verbunden mit dem einen oder anderen bedeutungsmächtigen Erinnerungsbild). Das hilft dem Klienten, mehr und mehr die komplizierten Zusammenhänge, in denen er verstrickt ist, zu überschauen. Es ermöglicht ihm, die selben Zusammenhänge auch außerhalb der Therapie zu sehen und für sich nutzbar zu machen. Es findet aber noch eine weitere Form der Absicherung des Neuerfahrenen statt. Diese besteht in einer expliziten Nutzung des Zu-Ende-Bringens einer Therapie: Therapeut und Klient müssen die fallspezifische Form des jeweiligen Therapie-Endes noch einmal auf die Problematik des Falles selbst und auf die neu erfahrenen Veränderungsspielräume hin übersetzen. Dies verhindert zunächst einmal, dass mit dem Ende eine Erfahrung gemacht wird, die dem Neuerlernten in der Therapie eventuell entgegensteht. Und eine solche Schlusserfahrung kann überaus negative Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit des neu Erworbenen haben. In der Trennungsphase der Therapie wird, ob gewollt oder nicht, das gelebte Muster des Falles mit seinen neu entdeckten Möglichkeiten noch einmal auf eine besonders nachwirkende Weise auf die Bühne gebracht. Bildanalytische Akzentsetzung Vielleicht sollten wir uns das Prinzip an dem Beispiel eines Lebensverlaufes deutlich machen. Denken wir uns einen Menschen, der sich auf sehr vielen Gebieten betätigt. Er versucht, nirgendwo etwas zu verpassen und, salopp gesagt, ist er bekannt als „Hans Dampf in allen Gassen". Nehmen wir weiterhin an, dass er ein besonderes Talent besitzt, welches zu entfalten ihm aber ein recht großes Maß an Muße und Beständigkeit abverlangen würde. Die Entfaltung dieser vielleicht schriftstellerischen Fähigkeit bleibt aber hinter den anderen Dingen zurück. Wenn dieser Mensch jetzt z.B. durch einen schweren, irreparablen Rückenschaden dazu gezwungen wird, fortan alle Arbeit im Sitzen zu verrichten, würde das einen großen Einschnitt in die bisherige Form seiner Lebensführung bedeuten. Nehmen wir weiter an, dass seine rege Tätigkeit mit häufigem Ortswechsel und mit einer Vielzahl an gesellschaftlichen Begegnungen auf den verschiedensten Bühnen verbunden war. Es gibt nun zwei verschiedene Weiterentwicklungsmöglichkeiten: Die eine besteht in dem Versuch, die besondere Natur des „Hans Dampf in allen Gassen" beizubehalten. In diesem Falle könnte er versuchen, z.B. das Internet als kompensierendes Medium einzusetzen. Er würde seine Geschäfte derart umgestalten, dass sie sich mit Hilfe des neuen Mediums gleichsam im Sitzen organisieren lassen. So könnte es ihm vielleicht gelingen, auf den verschiedensten Feldern seines Wirkens auch weiterhin mit dabei zu sein. Eine andere Wendung der Entwicklung könnte so aussehen, dass der Betroffene in diesem Falle die ungewollte Bewegungseinschränkung im Sinne einer Weiterentwicklung seines bisher nur wenig geförderten schriftstellerischen Talentes nutzt. Er nimmt sie dann als eine Erleichterung dazu an, das nötige Sitzfleisch zu entwickeln. Nun kann es geschehen, dass er mit dieser Entwicklung erfolgreich ist und eine Größe innerhalb der Literatur wird. Das Ereignis des Rückenschadens wird in diesem Falle eine andere Bedeutung erhalten als im Falle einer Fortsetzung des gelebten Prinzips (Beibehaltung der Geschäftigkeit durch eine Übersetzung auf ein anderes Medium z.B. Internet). Das jeweilige Ende der Entwicklung gibt dem Ereignis je einen anderen Sinn und lässt den Betroffenen mit einem gewissen Stolz am Ende hoffentlich sagen, „ja, so habe ich es gewollt." Das Umschaffen als Prinzip Die Bedeutungswandlung hat eine Logik, die in ihrer Form an eine Zeitumkehrung erinnert: Nicht das Erste bringt das Zweite hervor, sondern: Das Erste wird durch das Zweite erst erschaffen. Letzteres ist unter Bedeutungseinheiten tatsächlich so, auch wenn das etwas merkwürdig klingen mag: Das zeitlich Zweite gibt dem Vorangegangenen erst seinen Sinn und bringt es in seiner jeweiligen Bedeutung erst hervor. Die Dinge sind immer das, was sie vom Ende her sind. Zur Wirklichkeit der psychischen Zusammenhänge, die in Bedeutungen besteht, passt eine deterministische Interpretation nicht: Psychische Zusammenhänge überschreiten sich vielmehr unentwegt selbst und legen sich dabei von Fall zu Fall mmer wieder neu aus. Das ganze geschieht wie von einem sich immer wieder verändernden Ende her. In einem solchen Umfeld macht es wenig Sinn, von einer deterministischen Wirklichkeit auszugehen. Bindungsmacht der Zwischenwelt Der Therapeut muss sich in dieser Situation einer Wirklichkeit stellen, die ihn jeglicher Korrekturmöglichkeiten beraubt. Sein Teil ist geleistet. Er muss in eine Wirklichkeit einwilligen, die ihn ab jetzt nicht mehr fragt, wie er es denn gerne noch zusammen mit dem Klienten umgeschaffen hätte. Ab jetzt unterstellen sich beide einem Dritten, einer Realität, die sie nicht mehr wie in der Zwischenwelt bisher in der Hand haben. Das verbindet beide für einen kurzen Augenblick auf eine ganz neue Art und Weise und stiftet ein Gefühl des Neubeginnens in der Trennung. Der Vorgang kann die Bedeutung einer Initiation einnehmen. Der Schutz einer Zwischenwelt, den der Therapeut auf seine Weise auch selbst genossen hat, muss am Ende von beiden Seiten aufgegeben werden können. Auch der Therapeut muss diese Ablösung leisten. Die gemeinsame Welt der Therapie hat ihm abkürzende Wunscherfüllungen zukommen lassen, und umgekehrt auch einiges vorenthalten, was nur in einer „normalen" Beziehung, bei einem „gleich zu gleich" erfahrbar wäre. Er muss sich daraus befreien und tut damit etwas für sich und seine Psychohygiene. Das kann der Klient erspüren und wie eine Entlastung auch für sich erfahren. Das Neue kommt wie im Sprung Die angesprochene Haltung, die in der Ablösungsphase erforderlich ist, entsteht allerdings nicht nach und nach. Die neue Haltung kommt vielmehr in einem Gestaltsprung zustande, auch wenn hierzu eine lange Entwicklung vorangehen muss. Dieser Gestaltsprung muss aber noch innerhalb der Therapie stattfinden. Darauf ist eine strukturell funktionierende Psychotherapie angelegt. Die beste Gelegenheit hierzu ist die Gestaltung des Therapie- Endes. Der Klient bringt ein passendes Ende in die Therapie hinein, was vom Therapeuten als solches nur noch anerkannt werden muss. Er muss ohne die suggestive Unterstützung des Therapeuten spüren können, dass seine Art, die Therapie zu beenden, der gewonnenen Erkenntnis aus der eigenen Therapie auch genau entspricht. Und das heißt dann auch, dass sein Schlussstrich in der Therapie dem gemeinsam Entwickelten Recht gibt und zu der bisherigen Entwicklung sagt: „Genau so habe ich es gewollt". Das kommt einer Entlastung des Therapeuten gleich, die der Klient ihm gegenüber „ausspricht". Das Geschehene spricht für sich. Und die Entwicklung, auf die es die Therapie angelegt hat, kann so mit einem guten Gefühl in die Offenheiten der normalen Welt hinein entlassen werden. Gemeinsames Verlassen einer Institution Eine gelungene Psychotherapie endet mit der von beiden Seiten gewürdigten Übertragung des vom Klienten in die Therapie eingebrachten und gemeinsam vertieften Handlungsmusters auf das ganz konkrete Trennungsgeschehen in der Therapie. Ein so gerahmter Therapieabschluss bedeutet nicht nur eine Vertiefung des Erfahrenen, sondern ermöglicht darüber hinaus auch eine ernsthafte erste Bewährung für die neu entdeckten Spielräume. Das Ende ist auch die Herausforderung an den Klienten, auf gleicher Ebene mit dem Therapeuten Abschied zu nehmen von einer Institution, welche die gemeinsame Arbeit bisher getragen hat. Der Turm im Märchen ist ein Ort, an dem etwas passiert, was so nicht von den beiden, die sich dort begegnen, geplant war. Anders geht es dagegen in der Vorgeschichte des Märchens zu. Die Schwangerschaft der Eltern ist sehr wohl geplant und wird lange Zeit vergeblich herbeigewünscht. Die Eltern von Rapunzel befinden sich in einer ständigen Erwartungshaltung, sind getrieben von unstillbarem Verlangen, was am Ende sogar erpresserisch auftritt und mit körperlich drohendem Verfall sich durchsetzt, wobei das Kind wegen eines unguten Handels ihnen gleich nach der Geburt wieder abgenommen wird. Im Rapunzelturm ergibt sich eine Schwangerschaft eher wie nebenbei, ja fast schon wie ein Unfall. Das lustvolle Beisammensein wird durch das Schwangerwerden von Rapunzel jäh unterbrochen. In der Urfassung des Märchens heißt es: Rapunzel sagt zur Gothel, dass ihr die Kleider immer enger werden, worauf diese zugleich die volle Bedeutung des Geschehens erfasst und ihre Veranlassungen trifft, der veränderten Situation Rechnung zu tragen. Rapunzel wird in eine Art von Wüstenei verbannt. Das setzt ins Bild und erkennt an, dass die Schwanger-Gewordene sich in einen völlig neuen und unbekannten Zustand versetzt fühlen muss. Das Gleichnis der Wüstenei meint eine wildnishafte Umgebung, in der es keine vertrauten Wege gibt, und wo alles wie zum ersten mal geschieht. So ähnlich ergeht es einem Klienten, wenn es ihm möglich wird, ein Bild anzuschauen, das sein Handeln in den tiefsten Gründen zusammenhält und darin eingeschlossen ein paar verwirrende Wendungen und Spielräume zeigt. Austragen der „Schwangerschaft" Der Klient soll das Ende einer Therapie als sein, von ihm selbst gestaltetes, Ende erkennen können. Er kann in einer neuen Begegnung mit dem Therapeuten wie Rapunzel einen Prozess abschließen, an dessen Ende etwas steht, was nach Zeiten von Unsicherheiten und Verwirrungen (Wüstenei) in die Verfügbarkeit von etwas Eigenem hinübergegangen ist. Die erfahrenen und auch die zugemuteten Leiden und Entsagungen werden nach der umweghaften, nachschaffenden Entwicklung nun auf eine neue Weise bewertet und mit den Tränen, die im Märchen von Rapunzel auf die Augen des Königssohnes fallen, auch ganz und gar bejaht. Eine Therapie, findet ihren Abschluss nicht schon in einer befruchtenden neuen Erfahrung, die in einem therapeutischen Prozess gleich einer Schwangerschaft stattfindet. Die Psychotherapie beinhaltet vielmehr noch das Austragen des Neuerfahrenen und das letztendliche Vorzeigenkönnen des lebensfähigen Neuen. Im Märchen sind die ausgetragenen Zwillinge sogar schon ein paar Jahre alt. Analog hierzu hätte der Leseprozess mit der Zusammenfassung im letzten Kapitel auch schon enden können. Das „Austragen" des Neu-Erfahrenen wäre dabei auf die Zeit nach der Lektüre verschoben. Damit der Leser das besondere Wissen um die Therapie- Abschlussproblematik aber schon in der Lektüre anwenden kann, war es mir wichtig, auch strukturell die Möglichkeit hierzu in dem Artikel einzurichten. Durch das angehängte Märchen kann der Leser seine neuen Erfahrungen, die er in dem Artikel machen konnte, noch in dem Leseprozess selbst durcharbeiten. Der Autor darf und muss darauf vertrauen.
|